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Die Zwanzigerjahre liegen vor unsKathy Kreuzberg und Phil von FriedrichshainCorbo, Berlin, 2.10.2015
Text: Stephan Göritz
Zu Beginn intoniert Phil von Friedrichshain auf dem Klavier „Lili Marleen“. Als allgemeines Intro für einen melancholischen Abend? Oder weil hier gerade eine Party zu Ende gegangen ist, die eher ein Krieg war? Auf der Bühne herrscht stilvoll drapierte Unordnung: leere Flaschen, verstreute Zettel und ein umgefallener Barhocker. Hinter dem liegt Kathy Kreuzberg und konfrontiert uns mit einem zweiten Chansonklassiker, diesmal gesungen: „Kein Tag ist sicher vor der Nacht“. Frei von Illusionen verlässt sie alsbald ihren Schutzraum hinter dem Barhocker und sagt der Lebenslangeweile den Kampf an. Wo könnte man das besser, meint sie, als in den Berliner Nächten, in denen „alle stranden, die mit den Beinen in der Scheiße stehen und mit dem Kopf in den Wolken hängen“? Angezogen fast wie Charlie Chaplin in The Kid, kämpft sie sich durch ein Labyrinth aus Begegnungen und Missverständnissen, verweigerten Antworten und immer neuen Fragen. Wenn in den ehemaligen Waisenhäusern an der Rummelsburger Bucht heute die wohnen, die Geld haben, werden dann, überlegt Kathy Kreuzberg, die Menschen der Zukunft in ehemaligen Flüchtlingsheimen wohnen? (Wobei es ja noch eine gute Entwicklung wäre, wenn es sich dann wirklich um ehemalige Flüchtlingsheime handeln würde.) Und wann wird die Bundesregierung den Verteidigungsfall in der eigenen Hauptstadt ausrufen? Die Grenzen sogenannt politisch korrekter Antworten gelten nicht mehr in dieser Nacht, ebenso wenig wie die der Zeit. So finden wir uns unvermutet im von Hoffnung und Angst geprägten Berlin der Weimarer Republik wieder und erfahren: Die Zwanzigerjahre liegen vor uns. Eine so verstörende wie arithmetisch unstrittige Prognose.
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