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Berliner Phonogramm-ArchivDie Walzenkönige
Viele Musikethnologen drehen gerade Däumchen. Raus „ins Feld“, wie es in der Szene heißt, dürfen sie zurzeit meist nicht: Wegen Covid-19 können sie Musikern in aller Welt kaum neue Töne ablauschen. Doch es gibt auch Klangarchive, in denen die Arbeit nicht ausgeht. Darunter ist das Berliner Phonogramm-Archiv, das gerade mit einem Jubiläum und neuen Räumen allen Grund zum Feiern hat.
Text: Ines Körver
Auf den Monat genau 120 Jahre ist es her, da machte der Psychologe und Philosoph Carl Stumpf etwas damals ausgesprochen Ungewöhnliches: Er nahm ein siamesisches Musikensemble auf, das im Berliner Zoologischen Garten gastierte. Kurios war dabei nicht, dass Töne reproduzierbar wurden – das waren sie bereits seit Thomas Alva Edisons Erfindung des Phonographen 1877 –, sondern der Gegenstand: Musik ferner Kulturen. Mit seiner Wachswalzenaufnahme legte Stumpf den Grundstein für das Berliner Phonogramm-Archiv, das zu den frühesten und bedeutendsten musikethnologischen Sammlungen der Welt gehört.
Heute zählt das 1900 gegründete Berliner Phonogramm-Archiv mehr als 16.000 eigenständige Aufnahmen auf Walzen. Rechnet man die Negative hinzu, sogenannte Galvanos, die zu Reproduktionszwecken erstellt werden, sowie die mithilfe von Galvanos erstellten Kopien, so sind es etwa 30.000. Über 350 Sammlungen fanden Eingang in das Archiv, die Aufzeichnungen aus allen Weltregionen beinhalten. Darunter sind zahlreiche Dokumente inzwischen ausgerotteter Kulturen, zum Beispiel aus Feuerland.
Die Anfänge
Die ersten Feldaufnahmen für das Archiv machte der Anthropologe und Archäologe Felix von Luschan 1902. Er nahm am archäologischen Grabungsort Zincirli 1902 türkische Musiker auf. „Von Luschan war so begeistert davon, dass er Forschern empfahl, von nun an immer zu Ausgrabungsstätten Phonographen mitzunehmen“, erzählt Albrecht Wiedmann, derzeitiger Kurator des Archivs. Wichtig für die Sammlung war auch Erich Moritz von Hornbostel, den Musiker und Musikethnologen in aller Welt wegen seiner mit Curt Sachs entwickelten Klassifizierung der Musikinstrumente kennen. Er hatte zunächst in Wien Chemie studiert, sich dann als Assistent von Stumpf der Tonpsychologie zugewandt und entwickelte die Galvanos und damit die Reproduzierbarkeit von Walzen.
Als der Preußische Staat das Archiv 1923 erwarb, ging es in die Verwaltung der Musikhochschule Berlin-Charlottenburg über. Hornbostel, bereits seit 1906 Direktor des Archivs, erhielt eine Professur und baute die Sammlung aus, wurde jedoch als „Halbjude“ 1933 seiner Ämter enthoben. Nach seiner Emigration wurde das Archiv an das Museum für Völkerkunde angeschlossen und Hornbostels ehemaliger Stellvertreter Marius Schneider nahm seinen Platz ein. „Schneider nutzte das Archiv vor allem für sich selbst. Er schrieb damals eine umfangreiche Geschichte der Mehrstimmigkeit“, weiß Wiedmann.
In den Wirren des Zweiten Weltkriegs wurden die empfindlichen Wachswalzen nach Sankt Petersburg gebracht. Ein kleiner Teil, die Sammlung Julius Block mit russischen Aufnahmen, ist immer noch dort. Der überwiegende Teil gelangte aber nach einigen Jahren zurück nach Berlin an die Akademie der Wissenschaften der DDR. Kurt Reinhard, der im Westen inzwischen im Begriff war, eine neue Sammlung für die Musikethnologische Abteilung des Museums für Völkerkunde aufzubauen, machte 1965 mit Erich Stockmann vom Institut für deutsche Volkskunde der Ostberliner Akademie einen Deal: Mehrfach wurden Walzen in den Westen gebracht, dort konnten die Westkolleginnen und -kollegen sie kopieren, dann wurden sie wieder zurückgebracht, ergänzt um die Dokumentation der jeweiligen Walzen, die Ostwissenschaftler zuvor nicht gehabt hatten. Diese Aktivitäten wurden aber nach etwa drei Jahren unterbunden.
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