Aktuelles Album:
Schtschasliwaja Sjamjorka/Lucky Seven – Neue Lieder und Anekdoten (BMA Group, 2010)
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Victor ShalkevichWitzbold vom Dienst
Weißrussland, halb so groß wie Deutschland, ein verwunschenes Land hinter der EU-Außengrenze, schläft mit seinen zehn Millionen Einwohnern bisweilen tapfer den Schlaf jeglicher Vernunft, denn ein ehemaliger Kolchosvorsitzender hält das Land fest in eisernen diktatorischen Krallen. Was kann man da singen, umringt von drei Geheimdiensten, wo in der Hauptstadt der Zentralismus destilliert wurde und ausgebrütet vor sich hin gammelt als Zentralpost und Zentralpoliklinik? Was kann man da singen, wo die Bronzestatue des Obertschekisten Dzierzynski auf geheimnisvolle Art und Weise jeden Tag etwas an Größe zuzunehmen scheint?
Text: Dieter Kalka
Ja, Shalkevich singt. Immer noch. Und es ist ein Wunder an sich. Nicht abkommandiert nach Sibirien, nicht landesverwiesen, nicht einmal des Nachts abgeholt. Allein das würde genügen: dass seine Stimme noch da ist. Inzwischen ist er Kult im Land. Der wohl letzte echte Barde, der mit einer halb gestimmten Gitarre auskommt, mit seiner schrägen Mimik und ausdauerndem Witzstrom die Leute bei Laune hält und zwischendurch bissig-traurige Balladen von sich gibt. „Ich bin Jude, ach, und auch noch Komsomolze!“ Pointiert vorgetragen, mit hochgezogenen Augenbrauen.
Victor Shalkevich sog die kulturelle Identität des russisch-polnisch-jiddisch-weißrussischen Völkergemischs seiner Heimat mit der Muttermilch auf: die unsagbaren Weiten des Landes, die stolze polnisch-patriotische Literatur, die er gern aufs Korn nimmt, die weißrussische Bescheidenheit und den jiddischen Humor. In einer Stunde schafft Shalkevich vierzig Witze. Liebeslieder wechseln sich bei ihm ab mit dem „belarussischen Blues“. In seinem Song „Sie ist altslawisch-orthodox und ich bin Katholik“ artikuliert er den naiven Wunsch nach Harmonie und Aufhebung der Gegensätze. Wenn Shalkevich eine stärkere Ausdrucksform sucht, benutzt er den Tango mit Witz und Charme, manchmal auch, um in seiner Übersteigerung mit einem coolen Zynismus die Enttäuschung seiner Sehnsucht zu artikulieren. Regelmäßig greift er jiddische Themen auf wie im Lied an Kasia in Brooklyn, die ihre jiddischen Freunde vergessen hat, oder in „Dobraj Ranicy“, dem Titelsong seines vierten Albums, der übersetzt so viel heißt wie „Guten Morgen, du jüdische Nation“. Oder er rät im Judentango „einem Jidden“, sich nicht einfach so davonzumachen.
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