Folker-Logo   Abo   Mediadaten/Anzeigen


Suche
   Intern   Über uns


Kontakt/Impressum/Datenschutz

       
Backkatalog   Ausgabe Nr. 5/2020   Internetartikel
Banner #alarmstuferot

[Zurück zur Übersicht]



Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Printversion, das Heft kann bestellt werden unter www.irish‑shop.de.

Oder gleich zum (Schnupper-)Abo.








„Bis 2022 dauert es mindestens“

Veranstaltungsszene von zweiter Absagewelle überrollt

Seit dem Ende des vollständigen Veranstaltungsverbots am 30. Juni sind fast drei Monate vergangen. Veranstaltungsorte, die die strengen Hygiene- und Abstandsauflagen gewährleisten können, haben den Vorstellungsbetrieb auf Sparflamme wieder aufgenommen, und auch große Spielorte wie Theater und Opernhäuser öffnen spätestens mit dem Beginn der neuen Saison unter umfassenden Sicherheitsmaßnahmen wieder ihre Pforten. Es könnte der Eindruck entstehen, dass der Veranstaltungssektor allmählich auf dem Weg zur Normalität sei.

Text: Anne Gladitz

Dass die Realität davon nicht weiter entfernt sein könnte, darauf machte am 9. September das Aktionsbündnis #AlarmstufeRot mit einer Großdemonstration zum Regierungsviertel in Berlin aufmerksam. 15.000 Teilnehmer, unter ihnen prominente Rednerinnen und Redner wie Herbert Grönemeyer, hatten vor allem vor dem drohenden wirtschaftlichen Ruin der Branche gewarnt. Dass hinter den beeindruckenden Zahlen, die das Bündnis auf seiner Website www.alarmstuferot.org veröffentlicht – es handele sich immerhin um den sechstgrößten Wirtschaftssektor mit 130 Milliarden Euro Umsatz und über einer Million Beschäftigter –, unzählige persönliche Existenzkrisen stehen, lässt sich leicht erahnen.
Eine in mehrfacher Hinsicht Betroffene ist die Musikerin und Konzertagenturbetreiberin Gudrun Walther. Seit siebzehn Jahren tourt sie mit ihrer Irish-Folk-Band Cara durch Deutschland, Europa und die USA und hat sich mit ihrem fünfköpfigen Ensemble nicht nur einen exzellenten Ruf in der internationalen Szene erspielt, sondern das Projekt auch auf eine solide finanzielle Basis gestellt. Daneben betreibt sie seit zwei Jahrzehnten eine Konzertagentur für Folkmusik, die für gut fünfzehn Bands mit über hundert Gigs jährlich verantwortlich zeichnet. Eine gut funktionierende Struktur zwischen Agenturaufgaben und eigener künstlerischer Arbeit im Studio, auf der Bühne und im Proberaum hat sich Gudrun Walther mit den Jahren geschaffen, die ihr eine verlässliche Existenz gesichert hat.

Booking wird zur Absagenverwaltung

Seit dem 11. März dieses Jahres ist nichts mehr, wie es war. Das war der Tag, an dem die Coronaepidemie zur Pandemie erklärt wurde und von dem an das Telefon mit Absagen für Walthers Band und die von ihr vermittelten Ensembles nicht mehr stillstand. „Das hat mir den Boden unter den Füßen weggezogen“, sagt sie. „Bis zu diesem Zeitpunkt lief alles super, der Konzertkalender war voll, wir waren gut gebucht und haben zuverlässig verdient. Wir hatten jede Menge Pläne, die plötzlich mit einem Schlag hinfällig waren.“ 44 Gigs hat ihre eigene Band durch die Absagewelle bislang verloren, 27 Konzerte der von ihr gebuchten Formationen wurden in den letzten Monaten gecancelt. Dank einiger krisenfester, kreativer Veranstalter und dem vom Land Baden-Württemberg geförderten Programm „Kultur Sommer 2020“ kamen in den Sommermonaten für Cara und einige der vermittelten Bands wenigstens einzelne kleinere Open-Air-Auftritte hinzu, die jedoch den Verlust teilweise ganzer Tourneen nicht auffangen konnten.
Die Open-Air-Saison, die mit den wenigen Ersatzbuchungen dem Alltag wieder so etwas wie Normalität verliehen hat, liegt nun hinter ihnen, ihr jetziger Alltag, so Walther, sehe anders aus. Statt, wie sonst im September üblich, in die Zukunft zu planen und Programme für das Folgejahr festzuzurren, verwaltet sie nun Absagen. Diese betreffen die bislang noch stehenden Herbsttourneen und bereits die ersten Frühjahrstermine 2021. Unabhängigen Veranstalterinnen und Veranstaltern, die zu hundert Prozent auf Eintrittsgelder angewiesen sind, ist durch die Einbußen aufgrund der Abstandsregeln der Konzertbetrieb teilweise unmöglich gemacht worden. Zwar seien für diese Betriebe nun Fördergelder in Aussicht gestellt, deren Beantragung sei allerdings kompliziert, da nicht alle Betroffenen die dafür geforderten Voraussetzungen erfüllen. Auch viele engagierte ehrenamtliche Kulturinitiativen können das Ausrichten von Konzerten nicht verantworten, wenn ein zu großer Anteil der aktiven Helferinnen und Helfer der Risikogruppe angehört.
Die dritte Gruppe sind die städtischen Veranstalter wie Kulturämter. Diese können weiter Konzerte ausrichten, da sie nicht unbedingt darauf angewiesen sind, schwarze Zahlen zu schreiben. „Dies führt dazu, dass Tourneepläne, die ursprünglich chronologisch und geografisch effektiv gebucht waren, mittlerweile vollkommen zerschossen sind“, so Gudrun Walther. „Bei einer Absagenquote von fünfzig Prozent sind manche Tourneen vor allem für Künstler und Künstlerinnen aus dem Ausland wirtschaftlich nicht haltbar, da die Hotelkosten für die zahlreichen entstandenen Lückentage in keinem Verhältnis mehr zu den Gagen für die verbleibenden Gigs stehen – eine perfide Situation, wenn man dann als Agentur selbst die wenigen noch verbleibenden Konzerte absagen muss.“ Für die abgesagten Termine versuche sie dann Ersatzacts zu schicken.

Konzerte hinter Plexiglas und vor fast leeren „ausverkauften“ Sälen

Für dieses unbezahlte Krisenmanagement rotiert Gudrun Walther nun seit mehreren Monaten, teilweise bis zur Erschöpfung. Jetzt vermelden die ersten Festivals für den Sommer 2021, dass sie womöglich nicht stattfinden können. Und auch der derzeitige Touralltag ist alles andere als alltäglich. Da wird so mancher Auftritt in skurriler Erinnerung bleiben. So fuhr die in Baden-Württemberg lebende Musikerin 900 Kilometer für ein Konzert mit ihrem Duopartner Jürgen Treyz auf der Insel Föhr, um dann dort vor „ausverkauftem Haus“, sprich in diesem Fall 35 Zuhörern aufzutreten. Der Auftritt am Folgetag in Neumünster musste hingegen hinter einer Plexiglasscheibe stattfinden, da der Veranstalter die geforderten sechs Meter Abstand zwischen Bühne und Publikum nicht gewährleisten konnte. „Das war ein wenig wie Spielen im Terrarium“, sagt Walther, die versucht, ihren Humor zu bewahren, „aber was tut man nicht alles, um auftreten zu dürfen.“

Eigeninitiiertes Onlinefestival Sang und Klang sammelte 30.000 Euro für die freie Musikszene

Unermüdlich und mit kreativen Konzepten versuchen ehrenamtliche Veranstalter und Veranstalterinnen, die Livemusik am Leben zu halten. Und auch Gudrun Walther hat mit einigen Musikerkolleginnen und -kollegen ein solches Projekt buchstäblich aus dem Boden gestampft. Im Juni reifte die Idee, ein Onlinefestival für Folkmusik und Singer/Songwriter aus Deutschland zu veranstalten. Dabei sollten Spenden generiert werden für die teilnehmenden Musikerinnen und Musiker sowie drei große Künstlernothilfeorganisationen. Fünf Wochen verblieben dem Team für Namensfindung, inhaltliches Konzept, Kuratieren des Line-ups, Verpflichtung der Künstlerinnen und Künstler, die sämtlich ihre exklusiv produzierten Konzertmitschnitte kostenfrei zur Verfügung stellten, Filmschnitt und technische Realisation, Erstellen von Website und Social-Media-Kanälen und Bewerbung des gänzlich unbekannten Formats, ehe am 11. Juli das Sang und Klang Festival als Livestream online ging. Vierzehn Acts, unter ihnen Größen wie Stoppok, Dota, Wenzel und Sarah Lesch, gaben sich sieben Stunden lang die Klinke in die Hand, mit im Boot auch der Folker, dessen Herausgeber Mike Kamp die Moderation übernahm.
Die Resonanz auf das Festival war überwältigend. Fans und Fachkreise zeigten sich begeistert und voll des Lobes. Weit über 19.000 Klicks verzeichneten die Festivalstreams auf Youtube und Facebook. Und der schönste Lohn: Über 30.000 Euro Spendengelder konnten bisher an die Corona-Hilfsorganisationen Deutsche Orchesterstiftung, Initiative Musik gGmbH und #handforahand sowie die 44 am Festival beteiligten Musikerinnen und Musiker verteilt werden. „Ein toller Erfolg und mein persönliches Highlight 2020“, sagt Gudrun Walther über das unverhoffte Pilotprojekt. (Zum in der Printausgabe 5+6/2020 des Folker erschienenen Artikel über das Festival geht es hier.)

Rückkehr zur Normalität frühestens 2022

Mittlerweile setzt die Musikerin fast ausschließlich auf derartige Selbsthilfe. „Am Anfang habe ich noch viele Petitionen zur Rettung der Kulturbranche unterzeichnet und E-Mails an Abgeordnete geschrieben, aber irgendwann wird man dessen müde, weil einfach so wenig Resonanz seitens der Politik kommt, abgesehen vom Verweis auf Grundsicherung. Es ist für mich als Musikerin aber keine Lösung, meine Instrumente verkaufen zu müssen, um Grundsicherung zu erhalten, oder dass ich, wenn ich diese bezöge, vereinzelt reinkommende Auftrittsangebote nicht annehmen kann, weil ich nichts dazuverdienen darf. Dieses Angebot empfinde ich schlichtweg als Affront.“
Bis 2022, so rechnet Gudrun Walther, wird es wohl mindestens dauern, bis in der Konzertszene wieder so etwas wie Normalität einkehrt. Durch die permanente Verschiebung von Veranstaltungsterminen werde eine Planung fast unmöglich gemacht. „Normalerweise würde ich jetzt Tourneen für den Zeitraum bis Frühjahr 2022 buchen, das ist jedoch der Zeitraum, in den die Veranstalter alle Veranstaltungen aus dem Jahr 2020 verschoben haben. Daher gibt es dort keine freien Termine mehr. Das heißt, alle noch nicht gebuchten Gigs und auch solche, die man bräuchte, um die besagten Lücken in den Tourneen zu füllen, müssen erst mal auf Eis gelegt werden. Wenn wir großes Glück haben, sind bis Herbst 2022 die gröbsten Trümmer der Krise beseitigt.“

... mehr im Heft.


Gudrun Walther * Foto: Eva Giovannini
Gudrun Walther * Foto: Eva Giovannini