Albumtipps:
Dagadana, Meridian 68 (Karrot Kommando, 2016)
Dakha Brakha, Schliach/The Road (Eigenverlag, 2016)
Diverse, Borsh Division –Future Sound Of Ukraine (Trikont, 2016)
Diverse, Russendisko – Ukraine Do Amerika (Russendisko Records/Buschfunk, 2008)
Haydamaky, Haydamaky (Comp Music, 2002)
Mandry, Legenda Pro Iwanka Ta Odarku (Lavina Music, 2002)
Onuka, Onuka (Enjoy! Records, 2015)
Panivalkova, Dontwori (Nashformat, 2017)
Perkalaba, Gorrry! (Taras Bulba, 2005)
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Folk in der UkraineExperimentierfreudig, schräg und weiblich
Politische Umbrüche bringen bisweilen die beste Musik hervor. In der Ukraine ist in den vergangenen Jahren eine vielseitige, oft bizarre Folkszene entstanden, die fröhlich Archaisches und Modernes mixt, völlig konträre Genres integriert und überwiegend weiblich ist.
Doch die Krise, die sie hervorgebracht hat, entzweit sie manchmal auch.
Text: Ines Körver
#stopwar #peace #peaceukraine
Seit 24. Februar findet ein brutaler, von Wladimir Putin initiierter Angriffskrieg in Europa statt, etwas, was zuvor lange Jahre undenkbar schien. Er forderte bereits viele unschuldige Menschenleben, und auch die Kultur in der Ukraine ist massiv betroffen. Mitte März wurden 90 Prozent des Etats der Ukrainian Cultural Foundation dem Armeebudget zugeschlagen. Kulturschaffende auch aus dem Spektrum des folker haben ihre Instrumente gegen Waffen eingetauscht, um ihr Leben und ihre Heimat zu verteidigen. Unsere Gedanken und unsere Solidarität sind mit den Menschen in der Ukraine und allen auf der Welt, die Leid und Gewalt erfahren.
Bereits in Ausgabe 1/2018 des folker fand sich ein Beitrag über „Folk in der Ukraine“, der unter anderem konkreten Bezug auf den russisch-ukrainischen Konflikt nahm, welcher seit 2014 und der Annexion der Krim-Halbinsel durch Russland an Fahrt aufgenommen hatte. Aus gegebenem Anlass und um den Blick auf die vielfältige musikalische Landschaft der Ukraine zu lenken, haben wir diesen Artikel nun in voller Länge hier zugänglich gemacht.
Für Spenden und sonstige Unterstützung der Menschen in der Ukraine empfehlen wir folgende Links:
www.betterplace.org/de/fundraising-events/40566-nothilfe-fuer-die-ukraine
www.stezhyna.org.ua
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Ukrainischer Folk? Auch eingefleischte Musikliebhaber zeigen sich zumeist ratlos, wenn es um das flächenmäßig größte ausschließlich auf dem europäischen Kontinent liegende Land geht. Vielen fällt noch ein, dass bei der Orangenen Revolution anlässlich der Präsidentschaftswahl 2004 auf dem zentralen Maidan, dem Platz der Unabhängigkeit in Kiew, Folkrockbands auftraten. Oder sie denken an Ruslana Lyschytschko, die im selben Jahr mit „Wild Dances“ den Eurovision Song Contest in Istanbul gewann. Und dann war da noch die Ausgabe des Wettbewerbs in Kiew im vergangenen Jahr, bei dem Onuka und Naoni auftraten und sich das Publikum an teils bombastischen Melodien im Elektrofolkgewand berauschen konnte. Wirkungsvoll wurden da landestypische Instrumente wie die Sechslochflöte Sopilka, die Lautenzither Bandura und das Hackbrett in Szene gesetzt. Ansonsten kennt kaum einer die Musik des Landes, trotz der Möglichkeiten des Internets heutzutage. Halbwegs gute Überblicke über das aktuelle musikalische Treiben im Land, wenn auch mit einem starken Schwerpunkt auf Rockmusik, lieferten in den vergangenen Jahren wohl nur zwei Kompilationen von Russendisko-Mitbegründer Yuriy Gurzhy, der selbst Ukrainer ist – Ukraine Do Amerika von 2008 sowie Borsh Division von 2016.
Es ist schade, dass ukrainischer Folk in Deutschland kaum bekannt ist, denn nach einem ersten nennenswerten Aufschwung nach der Unabhängigkeit 1991 hat das Genre seit den Euromaidan genannten Protesten in Kiew 2013 und 2014 und dem Einmarsch russischer und mit ihnen sympathisierender Kämpfer im Osten des Landes sowie auf der Krim deutlich an Konturen gewonnen und sich zu etwas ganz Eigenem gemausert. War Folk in den Unabhängigkeitsjahren noch schmückendes Beiwerk einer männerdominierten, gitarrenlastigen Rockmusik, so ist in den Krisenjahren des aktuellen Jahrzehnts für viele Künstler das traditionelle Liedgut der Ukraine ins Zentrum ihres musikalischen Schaffens gerückt. Die neue Szene ist verspielt. Sie liebt die Verkleidung, insbesondere das Experimentieren mit den Versatzstücken alter volkstümlicher Mode.
Inbegriff dieser neuen Folkbewegung ist der inzwischen wohl heißeste Export des Landes, die Gruppe Dakha Brakha. Die drei Damen der Band bestechen optisch nicht nur durch schöne Kleider, sondern auch durch etwa achtzig Zentimeter hohe schwarze Hüte, eine Reverenz an das tatarische Erbe der Ukraine. Der einzige Mann der Gruppe trägt, wenn überhaupt, zu seiner Tracht einen weißen, ebenso hohen Hut. Mehr noch als die Kostüme ziehen aber die Gesänge die Zuhörer in den Bann. Nach wenigen Tönen ist klar, die 2004 am Dakh, dem unabhängigen Kiewer Zentrum für zeitgenössische Kunst gegründete Gruppe reichert nicht westliche Musik mit ein bisschen einheimischer Folklore an.
Es ist eher umgekehrt: Der sehr ukrainische Stil der vier wird aufgepeppt mit diversen anderen Einflüssen, darunter Rap, Techno und Orientalisches, wie Sänger Marko Halanevych, der auch Darbuka, Didgeridoo und
Akkordeon spielt,
bestätigt: „Wir mischen ukrainische Musik mit anderen Genres.“ Und das gleichzeitig anarchisch und avantgardistisch, mutig und melodisch. Die Mischung funktioniert und ist regelrecht partytauglich,
wie die Band bei einem Berliner Auftritt im Festsaal Kreuzberg im Juni 2017 eindrucksvoll bewies, wo das Publikum sofort mitging und einige, auch ältere Semester, regelrecht in Trance gerieten.
Schließlich unterfüttern die vier ihre expressiven Stimmen, die auch Kehlkopf-, Oberton-, Untertongesang, Juchzen und Johlen beherrschen, mit groovigen Riffs, sparsamen Akkordwechseln und hypnotischen Beats.
Das in ukrainischem Stil bemalte Cello von Nina Garenetska, das mal die Bassfunktion und mal die Melodie übernimmt, sowie effektvoll eingesetzte typisch ukrainische Instrumente wie Maultrommel und Bandura verstärken
den exotischen Eindruck. Die Texte sind dabei teilweise so altertümlich, dass selbst gebürtige Ukrainer Schwierigkeiten haben, sie zu verstehen.
Auf eine gefälligere Mischung setzen Panivalkova. Die 2014 gegründete Drei-Frauen-Combo aus Kiew war im Sommer erstmals auf Europatournee und dabei in einem kleinen Club in Berlin zu Gast. Auch diese drei Musikerinnen trugen bei ihrem Auftritt hier gleichartige folkloristische Kleider und hohe Kopfbedeckungen. Im Gegensatz zu Dakha Brakha, mit denen sie immer wieder – wohl zu ihrem Leidwesen – verglichen werden, sind sie aber viel internationaler ausgerichtet. Ohne ihre ukrainische Herkunft zu verleugnen und mit klarem politischem Bewusstsein setzen sie sich stärker für die Emanzipation der Frau ein als für die nationale Identität. „Der Ausdruck Panivalkova steht für die perfekte Frau. Wir wollen zeigen, dass sie viele verschiedene Facetten hat und sich gerne schräg, selbstbewusst und jeden Tag anders anzieht, ganz wie es ihr gefällt“, verriet Sängerin, Percussionistin sowie Ukulele- und Melodicaspielerin Ira Luzina in der Pause des Berliner Konzerts und fügte hinzu: „Als Musiker fühlen wir uns wie ein einziger großer internationaler Volksstamm. Allerdings kommt in der Ukraine hinzu, dass wir uns in der Szene sehr gut kennen.“ So groß sei die eben auch nicht. Wegen der auch internationalen Ausrichtung des Kollektivs sind dann auch ein Großteil der Songs in englischer Sprache und bewegen sich in der Grauzone zwischen Pop und Folk. Insgesamt erinnern die drei mit ihrem einnehmenden elfenhaften Satzgesang eher an das ukrainisch-polnische, ebenfalls vorwiegend weibliche Projekt Dagadana. Doch auch Panivalkova greifen gerne zu Okarina, Maultrommel oder Kleinpercussion, um in typisch ukrainischer Manier Waldgeräusche zu imitieren und dann ein altes Volkslied zu intonieren.
Zu den Großen in der Ukraine gehören außerdem die eingangs erwähnten Onuka. Sie gelten weit über die Grenzen des Landes hinaus als die Pioniere des Elektrofolks. Entstanden aus der Kollaboration der Sängerin Nata Zhyzhchenko und des Elektronikkünstlers und Produzenten Eugene Filatov – die inzwischen verheiratet sind –, treten sie auf der Bühne meist in größerer Formation sowie in futuristischem Outfit auf, zum Teil aber auch mit Anklängen an traditionelle Gewänder. Bei der jüngsten Europatournee, die die Künstler Ende Oktober 2017 auch nach Berlin führte, standen insgesamt sieben Musiker auf der Bühne. Zentrum des Geschehens ist dabei immer die androgyne Zhyzhchenko mit ihrer zarten und dennoch kräftigen Stimme. In jedes noch so technolastige Stück integrieren die Musiker in ihrer Liveperformance Instrumente wie Sopilka, Bandura oder die alphornartige Trembita, die wie ein trompetender Elefant klingt. Onuka, was übrigens „Enkelin“ bedeutet, wäre fast nicht zustande gekommen, denn nach über zehn Jahren mit der Band Tomato Jaws hatte sie eigentlich keine Lust mehr auf Synthesizer und Elektroschlagzeug. Doch schon die erste Veröffentlichung mit Filatov, die EP Look, katapultierte die beiden im Mai 2014 an die Spitze der ukrainischen I-Tunes-Charts. Danach ging es nur noch bergauf. Im Oktober desselben Jahres standen sie mit ihrem Albumdebüt wieder auf Platz eins, 2015 gewannen sie den ukrainischen Musikpreis YUNA als Entdeckung des Jahres, und ausgedehnte Touren steigerten die Popularität weiter.
Wer die aktuelle Folkszene der Ukraine verstehen will, sollte sich ein wenig mit ihrer Herkunft beschäftigen. Erst dann erschließt sich wirklich, wie spielerisch die Traditionen in den neuen Kompositionen und Arrangements aufgegriffen werden. Besonders charakteristisch und in den Augen der Ukrainer besonders wichtig ist die Gesangstradition. Das zeigt sich darin, dass es Liedtexte samt Melodien zu absolut allen Lebenssituationen der Ukrainer und zu den wichtigen historischen Ereignissen gibt. Die Volksmusik ist somit das kollektive Gedächtnis des Landes. Es gibt Lieder über die Jahreszeiten und Erntezyklen, Lieder zur Heilung, zur Hochzeit, Volksepen, Balladen, vom sogenannten Kobsar, einem Rezitator, auf der Kobsa oder Bandura vorgetragene sogenannte Dumy über politische Ereignisse und so weiter. Gesungen wird gewöhnlich hetero-, aber auch polyfon, wobei die so entstehenden Akkorde nicht immer im Rahmen der westlichen Musiktradition einfach als Dur oder Moll zu verstehen sind. Meist führt die mittlere Stimme, die als Erstes einsetzt und das Tempo, die Stimmung und den Melodieverlauf bestimmt. Verzierungen und Varianten bringen auch die anderen Stimmen mit ein. Sie sorgen so dafür, dass die Aufmerksamkeit der Zuhörer kurzzeitig zwischen den Sängern hin und her wandert, und dadurch länger erhalten bleibt.
Die Volksmusik der Ukraine hat im zwanzigsten Jahrhundert vor allem unter zwei Tatsachen gelitten. Zum einen wurden insbesondere während der stalinistischen Säuberungsaktionen viele Kobsari getötet, sodass heute kaum noch jemand diese Kunst beherrscht. Zum anderen führte das Sowjetregime ab den Zwanzigerjahren sogenannte Proletarierlieder ein, die eher die Arbeiterklasse in den Städten in den Fokus nahm als die Landbevölkerung. Auf Initiative der Obrigkeit wurden viele Ensembles gegründet, die diese Lieder populär machen sollten. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Proletarierlieder weiter gefördert, um den aus dem Westen herüberkommenden Stilen wie Jazz, Schlager, Rock und Pop etwas entgegenzusetzen. Außerdem etablierte man Chöre und Bandura-Ensembles, deren Auftritte nicht selten mit Tanzvorführungen kombiniert wurden und den Bedarf an Volkstümlichem stillen sollten. Diese hatten allerdings mit den Traditionen wenig zu tun.
Auf Dauer aber ließen sich den Ukrainern die neuen Stilrichtungen aus den USA und Westeuropa sowie ihre eigene Musikgeschichte nicht vorenthalten. Ab den Sechzigerjahren kam es zu einer Reihe von Bandgründungen. Die Rockgruppen Eney und Hutsuly entstanden, in den Achtzigern folgten Braty Hadiukiny und Folkrockformationen wie Vopli Vidopliasova, Mertvyi Piven, in den Neunzigern Mandry, Perkalaba und Haydamaky, die ebenfalls Folkelemente verarbeiteten und wohl auch heute noch jeder ukrainische Musikfreund kennt. Spätestens seit dieser Zeit wuchs die Popularität einheimischer Musik stark, auch dank des Festivals und Bandwettbewerbs Chervona Ruta. Wer hier siegte, erhielt einen Plattenvertrag und durfte eine Tournee durchs Land machen. Diese Unterstützung spornte viele Musiker an, nicht nur einfach Genres aus dem Ausland zu imitieren, sondern sie mit den eigenen Traditionen anzureichern.
Mandry, 1997 in Kiew von dem damals schon berühmten Sänger und Komponisten Serhiy „Foma“ Fomenko zusammengestellt, kombiniert Rock, Blues und Ska mit Folk, erkennbar an den tragenden musikalischen Rollen des Akkordeons und der Geige sowie an der Aufnahme diverser Volkslieder ins eigene Repertoire. Die Gruppe veröffentlichte 2000 mit Romansero Pro Nizhnu Korolevu ihr erstes Album. Drei weitere folgten. Einige Stücke haben es mittlerweile auf im Westen erhältliche Sampler geschafft, beispielsweise auf den zu Anfang erwähnten Ukraine Do Amerika sowie auf Russendisko – Hits 2.
Perkalaba fanden sich 1998 in Iwano-Frankiwsk in der Westukraine und nannten sich nach einem kleinen Dorf in den Karpaten. Die Band verband von Anfang an Punk, Ska und Roots Reggae mit einheimischen Traditionen wie denen der Huzulen oder solchen aus der Bukowina und aus Transkarpatien. Seit dem fulminanten Debüt Gorrry! von 2005 hat die Gruppe acht weitere Alben vorgelegt – das aktuelle unter dem neuen Namen Familia Perkalaba –, die allerdings im Westen schwer erhältlich sind. In russischen Lebensmittelgeschäften hierzulande mit eigener Musikabteilung hat man bisweilen jedoch Glück.
Haydamaky gibt es bereits seit 1991. Die Gruppe setzte sehr früh bei Bühnenshows auf ein verwegenes folkloristisches Outfit, auf eine zentrale Funktion der Sopilka sowie des Akkordeons und bedient sich ausgiebig bei den Musiktraditionen der Regionen Polesien sowie ebenfalls der Bukowina und Transkarpatiens. Dem deutschen Publikum sind Haydamaky spätestens seit ihrem Auftritt in Rudolstatt 2003 ein Begriff. Inzwischen hat Sänger Oleksandr Yarmola sich von seinen bisherigen Mitspielern getrennt und firmiert jetzt mit neuen Bandmitgliedern als Haydamaky. Die alten Mitmusiker wiederum haben sich in Kozak System umbenannt und den Akkordeonisten Ivan Lenyo zum neuen Frontmann gekürt.
Ob nun in der ersten oder in der zweiten Phase des Folkrevivals entstanden, viele einheimische Musikgruppen versuchen derzeit, die traditionellen Gesänge der Ukraine wieder ins kollektive Bewusstsein zurückzuholen. Das durch den Krieg im Osten des Landes befeuerte Nationalbewusstsein ist dabei gleichzeitig Fluch und Segen. Zum einen inspiriert es die Musiker, zum anderen stachelt es sie gegeneinander auf. In der Ukraine sprechen mehr als ein Drittel der Bewohner Russisch als Muttersprache, nur ein Bruchteil von diesen aber sucht die ideologische Nähe Russlands. Die Stimmung ist jedoch so aufgeheizt, dass russischsprachige Rock- oder Folkmusiker von denjenigen, die auf Ukrainisch singen, immer wieder in Interviews oder auf Facebook diskreditiert werden. Das Ganze ist natürlich auch eine Reaktion auf vorangegangene Ungerechtigkeiten. „Jahrzehnte lang waren zuvor auf staatlicher und ideologischer Ebene die ukrainisch sprechenden Menschen schikaniert oder mundtot gemacht worden“, sagt Yuriy Gurzhy. Wenn es schlecht läuft, macht genau das die Renaissance der Folkmusik wieder kaputt, was sie hat erstarken lassen – der Nationalismus.
Dakha Brakha
Panivalkova * Foto: More Zvukov Agency
Onuka mit Nata Zhyzhchenko in der Mitte
Haydamaky
Mandry
Familia Perkalaba |
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