Auswahldiskografie:
Songs Of Olden Times (Harmonia Mundi, 2013)
Estonian Religious Folk Chorales – Johannes Ockeghem (Alba, 2007)
Loomiselaul (K&K Verlagsanstalt, 2006)

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Die himmlische Seite der MusikHeinavankerEstnische Gesangskunst a cappella
Wenn ein Vokalensemble aus Estland kommt, dem Land, das sich Ende der Achtzigerjahre mit der „Singenden Revolution“ seine Unabhängigkeit von der Sowjetunion erkämpfte, darf Großes erwartet werden. Die Gruppe Heinavanker verblüfft mit ihren kunstvollen und gleichzeitig natürlichen Interpretationen geistlicher Lieder aus christlicher und vorchristlicher Zeit selbst Kenner der baltischen Szene.
Text: Jens-Peter Müller
Ein Konzert von Heinavanker, wie Anfang Mai 2016 beim Festival Folk Baltica in Flensburg zu erleben war, irritiert zuerst einmal. Die zwei Sängerinnen und vier Sänger stehen auf der Bühne in ihren langen Kutten wie Mitglieder einer Klostergemeinschaft. Dann klappen sie statt Notenbüchern Tablets auf. Ihr Gesang klingt nach mittelalterlicher Gregorianik oder nach uralter nordischer Bordunmusik. Irgendwann meint man auch Obertongesang zu hören. Und tatsächlich, diese Technik, die nachweislich überhaupt keine Tradition in den Kulturen des Ostseeraumes hat, beherrschen die Vokalkünstler ebenfalls meisterhaft, setzen sie aber ohne Effekthascherei behutsam ein.
Dann ist da der Name Heinavanker, der übersetzt „Heuwagen“ bedeutet, was Bezüge zur ländlichen Volksmusik Estlands weckt. Der Name aber ist von dem gleichnamigen Altarbild von Hieronymus Bosch aus dem fünfzehnten Jahrhundert inspiriert. „Man könnte allerdings fast meinen,“ schreiben Heinavanker im Booklet ihres Albums Songs Of Olden Times, „die allegorischen Szenen dieses rätselhaften Gemäldes seien auf unser modernes Leben gemünzt: Ein hoch mit Heu beladener Wagen wird durch eine mit Menschen bevölkerte Landschaft gekarrt, die zielstrebig auf ihre Selbstvernichtung hinarbeiten.“ Oben auf dem Heuwagen wird musiziert. Ein Paar tanzt eng umschlungen. Von der einen Seite versucht ein hämischer Dämon, von der anderen ein Engel, Macht über die Musiker zu gewinnen. „Wir versuchen, auf der hellen, der himmlischen Seite zu stehen“, sagt Bass Vambola Krigul, „ auch wenn wir ganz alte Lieder aus vorchristlicher Zeit singen. Das sind dann zwar Lieder aus einer Zeit, bevor im zwölften Jahrhundert das Christentum an die baltische Küste kam, aber sie sind heilig. Es sind auf keinen Fall Lieder des Teufels.“
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