Folker-Logo   Abo   Mediadaten/Anzeigen


Suche
   Intern   Über uns


Kontakt/Impressum/Datenschutz

       
Backkatalog   Ausgabe Nr. 5/2015   Internetartikel
»Unsere Musik zu verschenken schien so offensichtlich für eine neue Band ohne Geld und Label.«
The Milk Carton Kids * Foto: Sara Kiesling

[Zurück zur Übersicht]



Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Printversion, das Heft kann bestellt werden unter www.irish‑shop.de.

Oder gleich zum (Schnupper-)Abo.






Diskografie:

The Milk Carton Kids

Monterey
(Anti, 2015)

Live From Lincoln Theater
(DVD; Anti, 2014)

The Ash & Clay
(Anti, 2013)

Prologue
(Milk Carton Records, 2011)

Kenneth Pattengale & Joey Ryan

Retrospect
(Milk Carton Records, 2011)


Cover Monterey


Reizvolle Gegensätze

The Milk Carton Kids

Poetischer Gitarrenfolk mit politischen Untertönen

Es gibt sie noch, diese magischen Momente, in denen die Luft knistert und jeder, der zugegen ist, spürt, dass er soeben etwas ganz Besonderes erlebt hat. In der ohnehin an Höhepunkten reichen Konzertfilmdokumentation Another Day, Another Time: Celebrating the Music of „Inside Llewyn Davis“ ist es jener, als sich hinter der Bühne zwei junge Männer in Anzügen um ein Mikro platzieren und mit perfektem Satzgesang zu virtuosem Gitarrenpicking ihren Song „Snake Eyes“ anstimmen: „Swing low, swing low / For to carry me home / In fire the skies of red ...“ Die Kamera fährt in einem langsamen Rechtsschwenk an dem zufrieden dreinschauenden Produzenten T Bone Burnett vorbei. Danach fängt sie die faszinierten Gesichter der im Hintergrund sitzenden Musiker ein, ehe sie auf einem honigkuchenpferdig grinsenden Chris Tyle verweilt, während der seinem Nachbarn Marcus Mumford die Schulter tätschelt, der sich verstohlen ein Tränchen aus dem Auge wischt. „Das war ein toller Augenblick mit den Milk Carton Kids“, bekennt Mumford anschließend. „Ich hatte ihre Musik vorher nicht gehört. Sie machen den Mund auf, und man weiß gar nicht, wer von ihnen singt, weil sie so synchron sind. Und auch ihre Gitarren lassen sie richtiggehend singen ...“

Text: Ulrich Joosten

Im Frühjahr vor dem Konzert, das am 29. September 2013 in der New Yorker Town Hall stattfand, hatten Joey Ryan und Kenneth Pattengale ihr zweites Album unter dem Bandnamen The Milk Carton Kids vorgelegt. Als „bittersüß und wundervoll“ beschreibt der San Francisco Chronicle die Musik ihres Debütalbums Prologue. Das Musikmagazin Performer urteilt über den Nachfolger: „The Ash & Clay ist ein weiteres Beispiel für die Fähigkeit des Duos, gleichwohl intime wie kraftvolle Lieder zu schreiben, bittersüß und inspirierend“, während die Los Angeles Times ihnen „absolute Beherrschung ihres Handwerks“ bescheinigt.
Dieses Handwerk besteht aus reizvollen Gegensätzen. Zwei Gitarristen verbinden virtuose Plektrum-Melodielinien mit filigran gezupfter Akkordbegleitung, verschmelzen musikalische Einflüsse aus Appalachenmusik, Bluegrass und Old-Time-Musik mit Anleihen beim urbanen amerikanischen Folkrevival der Sechzigerjahre. Melodien von zeitloser Schönheit zu hinreißenden Gitarrenarrangements laden zum Träumen ein. Doch die Idylle wird von enigmatischen, melancholischen Texten mit vielschichtiger Bedeutung gebrochen, die, meist auf der Kippe zwischen Verzweiflung und neuer Hoffnung, viel Raum für eigene Interpretationen lassen. Die Milk Carton Kids achten sehr genau darauf, dass die Songs bei allen hörbaren Folkeinflüssen nicht retro oder wie traditionelle Folksongs klingen.
Als sich die beiden Musiker in ihrer Heimatstadt Eagle Rock an der kalifornischen Westküste kennenlernen, liegt für beide eine lange Zeit der sehr engagierten und trotzdem sehr erfolglosen Karriere als Solokünstler hinter ihnen. Erst als sie Anfang 2011 beschließen, im Duo weiterzumachen, platzt der Knoten. Sie veröffentlichen drei Alben nach der gleichen antikommerziellen Formel: zwei Stimmen, zwei Gitarren – sonst nichts! Keine Gastmusiker, keine Overdubs, keine aufwendigen PR-Aktionen, kein Majorlabel. Die karge, aber wunderschöne Covergestaltung besteht aus historischen Landschaftsfotos aus der Library of Congress, der Forschungsbibliothek des Kongresses der Vereinigten Staaten, und von ihrem ersten Album als The Milk Carton Kids an gibt es keinerlei Fotos der Musiker auf dem Cover. Was zählt, sind die Inhalte, die Musik.
Wie nun macht man die Musik eines unbekannten Singer/Songwriter-Duos, einer Indiefolkgruppe ohne Major-Plattenvertrag bekannt? Kompromisslos gegen den Strich der Marktgesetze gebürstet, stellen sie die beiden ersten Alben Retrospect (noch als Kenneth Pattengale & Joey Ryan) und Prologue kostenlos zum Herunterladen auf ihrer Internetseite bereit. Und siehe da: Ihre Karriere hebt ab. „Die Aufnahmen kostenlos zur Verfügung zu stellen, hat auf allen Ebenen funktioniert“, resümiert Ryan und sieht diese Strategie als subversiven Akt gegenüber einer kollabierenden Plattenindustrie. „Unsere Musik zu verschenken, schien so offensichtlich für eine neue Band ohne Geld und Label, von der niemand jemals gehört hatte. Es ist nicht so, dass wir die Alben nicht auch als physischen Tonträger zum Kauf anbieten. Wenn Leute für unsere Musik bezahlen wollen, tun sie das. Wir haben auf der Bühne immer angekündigt, dass unsere beiden Alben kostenlos auf unserer Website verfügbar sind, dass wir sie aber auch nach dem Konzert verkaufen. Man glaubt nicht, wie lange Schlangen sich am Verkaufsstand bildeten.“
Über 575.000-mal sind die Alben heruntergeladen worden, Tendenz steigend. Und der Erfolg gibt ihnen recht: Plötzlich spricht alle Welt über die Milk Carton Kids und ihre poetischen Songs, ihren perfekten Harmoniegesang zu ausgefeilt ineinander verwobenem Gitarrenpicking. Da verwundert es kaum, dass The Ash & Clay für einen Grammy als bestes Folkalbum 2013 nominiert wird und dass die Milk Carton Kids im Jahr darauf von der Americana Music Association als „Duo/Gruppe des Jahres“ ausgezeichnet werden. Dabei hat es aus Joey Ryans Sicht zunächst nicht wirklich danach ausgesehen, dass aus der Zusammenarbeit etwas werden könnte. Er hatte ein Konzert Pattengales besucht und ihm hinterher eine seiner eigenen CDs in die Hand gedrückt. Einige Wochen später wird Ryan eingeladen. „Kenneth hatte“, erinnert er sich, „im Wohnzimmer ein Mikrofon aufgestellt und sagte: ‚Hey, warum bringst du mir nicht einen deiner Songs bei?‘ Er nahm alles auf, damit wir hinterher hören konnten, wie es klingt.“ Pattengale ist begeistert, Ryan findet das Ergebnis schrecklich. „Wir hatten uns die ganze Zeit gegenseitig geschoben und gezogen, was das Tempo betrifft“, sagt er, „und unsere Auffassung von Tonhöhen stimmte nicht wirklich überein.“ Doch Pattengale insistiert und hat recht, wie Ryan einsehen muss. „Unsere Stimmen haben sich aneinander gerieben, aber es klang wirklich gut. Nicht trotz, sondern gerade deshalb war eine Spannung vorhanden, die gut war und aufregend. Wir arbeiten nach dem Prinzip, unsere Musik so hübsch zu machen, wie wir können. Und gerade, weil wir so verschieden sind, fühlt sie sich so aufregend und spannend an. Das herausragendste Merkmal unserer Zusammenarbeit ist eben, dass wir sehr unterschiedlich sind!“

... mehr im Heft.


The Milk Carton Kids
The Milk Carton Kids