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Backkatalog   Ausgabe Nr. 6/2015   Internetartikel
»Ich glaube nicht an die Ewigkeit von kulturellen Dingen, schon gar nicht, wenn sie digitalisiert sind.«
Jan Reichow mit Aufnahmegerät Foto: Privat

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Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Printversion, das Heft kann bestellt werden unter www.irish‑shop.de.

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Melodieforscher mit fünfundsiebzig

Jan Reichow

Von der Bedeutung des bloßen Zuhörens

Langjährige Folker-Leserinnen und -Leser werden sich an das WDR Folkfestival (später Weltmusikfestival) erinnern. Oder an die „Matinee der Liedersänger“. Stars wie Mercedes Sosa oder Laydsmith Black Mambazo waren dort zu hören, lange bevor sie international bekannt waren. Verantwortlich für diese musikalischen Perlen war Jan Reichow, von 1976 bis zu seiner Pensionierung vor zehn Jahren Leiter der Redaktion Volksmusik des WDR. Beim TFF Rudolstadt 2005 wurde Reichow als „ziemlicher Solitär in der deutschen Medienlandschaft“ für seine Verdienste um Folk- und Weltmusik mit einer Ehren-Ruth ausgezeichnet. Das WDR Folkfestival und die meisten von ihm redaktionell betreuten Sendungen gibt es schon lange nicht mehr. Jan Reichow teilt heute seine Interessen der Welt auf andere Weise mit: im Internet. Website und Blog betrachtet er als „Fortsetzung der früheren Radiosendungen, aber weniger als damals auf die möglichen Interessen anderer Menschen zugeschnitten, dafür gibt es Vorträge, sondern allein auf die Projekte bezogen, die mich persönlich bewegen“. Anlässlich seines fünfundsiebzigsten Geburtstags am 6. Dezember hat Michael Kleff mit ihm gesprochen – über die Themen, die ihm heute existenziell erscheinen und darüber, wie er heute Musik hört.

Text: Michael Kleff

Kann sich Jan Reichow hinsetzen und Musik einfach nur genießen oder ist da immer der Musikethnologe und Geigenspieler am Werk, der jeden Ton analysiert?

Eine schwierige Frage, weil dahinter womöglich die Überzeugung steht, dass eine menschenfreundliche Musik doch auch ein zweckfreies Genießen zum Ziel hat. Meinetwegen. Ich spiele regelmäßig mit guten Leuten Streichquartett, mit einem Freund Klavier, vierhändig, das macht Spaß, und doch „arbeite“ ich auch ständig dafür, nicht nur am Instrument, sondern auch im Blog. Und es war vielleicht mein Beruf, der es mit sich gebracht hat, dass ich Musik nie nebenbei konsumiere und sofort aufmerksam verfolge, sobald Töne oder auch Geräusche aufeinanderfolgen. Bei Fahrten, die länger als zehn Minuten dauern, habe ich immer eine CD „zum Arbeiten“ dabei, meistens nur eine, wobei ich manche Tracks zigmal wiederhole. Ob es nun die „Vier Duette“ von Bach sind oder das neue Fadoalbum von Mariza oder koreanische Musik. Analysiere ich das? Ja, ich höre eben zu und schreibe was dazu auf, es ist prinzipiell interessant, und irgendwie genieße ich das, diese Arbeit. Geigespielen, Klavierspielen – jeden Tag, das ist vor allem Arbeit, man weiß ja wie es klingen soll, und am Ende stellt sich vielleicht eine gewisse Zufriedenheit ein, in meinem Alter auch Dankbarkeit, weil man automatisch lebendiger bleibt.

Es ist vor allem die Alte Musik, die dir am Herzen liegt …

Was ist denn das, Alte Musik? Es gibt nichts Neueres als Bach, unentbehrlich für meine einsame Insel, ebenso Mozart, Beethoven, Schubert, es ist so gigantisch und unerschöpflich, aber auch viele Aufnahmen indischer oder iranischer Musik. Und unzählige Stücke. Ich betrachte mich ja auch als einen Melodieforscher. Deshalb interessiert mich auch die meiste Popmusik unter diesem Aspekt, es gibt genug Perlen darunter. Und viel Schrott. Den Rhythmus finde ich meistens zu primitiv. Eigentlich unbegreiflich dieses Zerschlagen der Zeit für jeden, der sich mit orientalischer oder auch afrikanischer Rhythmik beschäftigt hat.
Was mich in erster Linie interessiert, ist ganz einfach: Das menschliche Vermögen „Musikalität“. Die ewige Frage: Was ist das, was uns an Tönen fasziniert, an Tönen und Theorien, die dazugehören? Wie sollte ich sonst erklären, dass ich bei jedem Glockenläuten aufmerksam werde und den Verlauf studiere, den Zufallsrhythmus, die Motive, die sich ergeben? Der Klingklang eines balinesischen Windspiels. Dann: Vogelstimmen! Die Schwarzdrossel meines Gartens ebenso wie den exotischen Orpheuszaunkönig. Sie sind doch beide musikalisch, oder nicht? Sind es vielleicht biologisch-dynamische Automaten?
Wenn ich Musikarten oder Komponisten aufzählen sollte, mit denen ich mich Monate oder Jahre beschäftigen möchte, könnte ich ein Buch füllen. Bedauerlicherweise ist das Leben endlich … Übrigens habe ich darüber auch schon mit Leuten gesprochen, die dann enttäuscht sind oder sogar wütend werden. Sie glauben, es sei ein Verrat an der Klassik, oder auch – sagen wir – am Blues oder am Irish Folk. Und ich gebe den Vorwurf zurück: An iranische Musik denkst du wohl überhaupt nicht!? Ich könnte sofort eine Aufnahme nennen, die mir unentbehrlich ist.

... mehr im Heft.