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Feiern statt zuhörenBerliner Liederbühnen schließenViele Künstler fühlen sich heimatlos
Im wilden Berlin nach dem Mauerfall wurden fast an jeder Ecke neue Lieder und neue Freiheiten ausprobiert. Orientierung boten oft Chansons von Friedrich Hollaender und Co., die schon in den vermeintlich goldenen Zwanzigern mit Freude Denkverbote ignorierten. Ganz in deren Sinne schrieben die Protagonisten der Neuen Berliner Chansonszene, wie sie sich selbstbewusst nannte, ihre eigenen Lieder, und bald war auch das dazugehörige Festival geboren, das Chansonfest Berlin.
Text: Stephan Göritz
Es konnte sich zwanzig Jahre lang behaupten, bis 2015. Doch sein Geist war weiterhin spürbar, wenn Sänger Boris Steinberg, einst Mitbegründer des Chansonfestes, alle zwei bis drei Monate im Grünen Salon der Volksbühne mit wechselnden Gästen zu seiner Reihe „Salon Chanson“ lud.
Ein neuer Intendant hat unbekannte Pläne
In persönlicher Atmosphäre kamen die Besucher schnell ins Gespräch, sowohl miteinander als auch mit den Künstlern. Dem Berliner Steinberg, der Polin Celina Muza oder der Französin Corinne Douarre, die hier viele ihrer ersten Auftritte hatten, konnte man nach dem Konzert, manchmal auch schon in der Pause problemlos an der Bar begegnen. „Unvorstellbar, dass das alles bald nicht mehr sein darf“, sagt Marisa Mrachacz. Die Geschäftsführerin nennt sich hier „Salondame“. Traurig schaut sie durch die hohen Fenster der Volksbühne, zu der der Grüne Salon zwar räumlich, nicht aber organisatorisch gehört. Er wurde schon vor über zwanzig Jahren an ein engagiertes Team verpachtet. Mit dem Ende der Intendanz Frank Castorfs an der Volksbühne läuft der Vertrag nun im Sommer aus. Damit endet das unverwechselbare Programm, das vom „Salon Chanson“ über Tangoabende bis zu Diskussionsrunden über Whistleblower reichte. Der neue Intendant Chris Dercon will das gesamte Haus einbeziehen in seine Umgestaltungspläne. Wie die für den Grünen Salon konkret aussehen, ist bis zur Stunde jedoch nicht zu erfahren. So verliert das intelligente Lied in Berlin erneut eine wichtige Bühne.
Ein Vermieter möchte lieber ein Café
2016 schloss bereits das Corbo, weil der Eigentümer, der nie eine Vorstellung besucht hat, den Mietvertrag nicht mehr verlängerte und in seinem Haus nun lieber ein Café haben wollte. Der Berlin-Story-Salon oder das Kleinkunsttheater Bellevue hatten sich schon in den Jahren davor verabschiedet. Andere Häuser, in denen früher oft Liedprogramme zu erleben waren, wie das BKA-Theater oder die Kalkscheune, haben ihre Spielplanpolitik umgestellt und bieten überwiegend Comedy oder Party. Liedkünstler kommen dort nur noch selten zum Zug. „Der Zeitgeist ist unübersehbar ein anderer geworden“, sagt Steinberg. Und Mrachacz konkretisiert: „Man will feiern und nimmt sich keine Ruhe zum Zuhören.“ Sie wird den Grünen Salon vermissen. „Sogar unser verhasster Backstagebereich, der stinkigste Raum im ganzen Haus, wird mir fehlen.“ Doch einen Neuanfang an anderem Ort schließt sie aus. „Das wäre bestenfalls ein Abklatsch.“
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