Auswahldiskografie:
Brot & Rosen (Müller-Lüdenscheidt-Verlag, 2017)
Und weil der Mensch ein Mensch ist (Müller-Lüdenscheidt-Verlag, 2015)
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Ein deutsches FolkphänomenDie GrenzgängerGeschichte und Geschichten mit Überraschungseffekten
Fünfmal wurden die Grenzgänger mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet, nun erscheint ihre siebte Produktion, Brot & Rosen, zum Thema „Liebe und ihre Bedingungen im Alltag“ mit Neuentdeckungen aus dem Freiburger Volksliedarchiv sowie erfrischenden Arrangements allseits bekannter Volksliedhits. Anlass für den Folker, sich mit dem Phänomen Grenzgänger und den Bedingungen ihres Erfolges zu befassen.
Text: Jens-Peter Müller
So unterhaltsam und überraschend wie die preisgekrönten Alben und die Konzerte der Grenzgänger ist auch ein Gespräch mit Michael Zachcial, dem Kopf der Gruppe. Fragt man nach dem Erfolg, redet Zachcial über Vertrauen. Spricht man im Zusammenhang des neuen Albums Brot & Rosen über Liebeslieder, landet man beim Thema Kinderarbeit. „Die gibt es heute immer noch auf der Welt, nur ist sie aus unserem Blickfeld verschwunden, während sie vor nicht mal hundertfünfzig Jahren in Deutschland noch ein Thema in fast allen Familien war“, erläutert der Musiker. Spannend findet er, dass parallel zum Erscheinen des Albums, auf dem deutschsprachige Liebeslieder aus sechs Jahrhunderten versammelt sind, der Kinofilm Der junge Marx anläuft. „Marx hat seine Theorien ja aus den Arbeitsbedingungen der Menschen entwickelt“, führt Zachcial den Gedanken aus. „Und damit hängt natürlich auch zusammen, welche Liebeschancen ein Mensch hat, inwieweit ein Sinn für Schönheit überhaupt entstehen kann. Wenn du vierzehn Stunden in der Fabrik arbeitest mit der Perspektive, dass es gerade mal zum Leben reicht, und du dich wie ein Sklave fühlst, wie steht es dann mit der Entwicklung des Selbstwertgefühls? Unter diesen Gesichtspunkten haben wir uns einige der alten Liebeslieder angeschaut und die Auswahl für die CD getroffen.“
Seit über dreißig Jahren lebt der in Duisburg geborene Musiker und Liedermacher in Bremen. Dort lernte er die drei weiteren Mitglieder der aktuellen Grenzgänger-Besetzung kennen. Die Bandbreite der Erfahrungen in zeitgenössischer E-Musik, Gypsy Swing und Heavy Metal, die Cellistin Annette Rettich, Akkordeonist Felix Kroll und der aus einer kroatischen Familie stammende Gitarrist Frederic Drobnjak einbringen, macht die Konzerte und Alben auch zu einem großen musikalischen Erlebnis. „Mir macht es einfach Freude, zwei-, drei-, vierhundert Jahre alte Lieder auszuwählen und sie so zu spielen, dass man nicht mehr darüber nachdenkt, wie alt sie sind, sondern sie mit der heutigen Wirklichkeit in Verbindung bringt“, sagt Zachcial. Diese musikalischen Qualitäten sind mit ein Grund, weshalb die Grenzgänger als eine der wenigen deutschen Folkgruppen auch schon mit Erfolg im Ausland aufgetreten sind, etwa in Irland, Norwegen und Schweden. Für die Aufnahmen von Brot & Rosen hat die Gruppe zudem Cynthia Nickschas als Gastsängerin gewinnen können, die sich mit ihren Songs und ihrer rauen Rockstimme in den letzten Jahren in der Liedermacherszene einen Namen gemacht hat (siehe auch Folker 4/2015).
„Zachze“, wie ihn Freunde und Musikkollegen nennen, kommt selbst von der Straßenmusik und vom Punk, was seine Herangehensweise geprägt hat, wie er findet: „Bei Dingen, die in der Wahrnehmung ganz einseitig besetzt sind, ist es ein großer Reiz für einen Künstler, diese zu dekonstruieren und neu aufzubauen. Vielleicht ist es immer noch dieser Zorn, den ich in meinen Anfängen als Punkmusiker ausgelebt habe, an scheinbar feststehenden Wahrheiten rütteln zu wollen und zu fragen, wie fest stehen sie denn, diese Wahrheiten? Und wenn ich merke, dass so Themen wie der Kapp-Putsch von 1920 oder Hoffmann von Fallersleben als Verfasser unserer Nationalhymne überhaupt keine Beachtung finden, ich aber meine, dass das gerade sehr wichtig ist, dann motiviert mich das umso mehr, mich damit eingehend zu beschäftigen.“
In den aufwendigen Booklets der Alben, die Zachcial im Eigenverlag herausbringt, werden die umfangreichen Rechercheaktivitäten und deren oftmals erstaunliche Ergebnisse dokumentiert. So wird etwa der Titelsong einer der schönsten Produktionen der Formation, Dunkel wars der Mond schien helle mit traditionellen Kinderliedern, oft diversen Dichtern zugeschrieben. Bei den Grenzgängern aber kann man nachlesen, dass es höchstwahrscheinlich von Schülern verfasst wurde, quasi als Parodie von Gedichten, die sie im Deutschunterricht auswendig lernen mussten. Die älteste Quelle dieses Liedes stammt aus einer Schulchronik aus dem Jahr 1880. „Die Kinder, die das schrieben, haben damit schon zwanzig, dreißig Jahre vorher Dada vorweggenommen“, schwärmte Michael Zachcial kürzlich in den Lied- und Folkgeschichte(n) des Deutschlandfunks. Für das Album Knüppel aus dem Sack über Hoffmann von Fallersleben recherchierte er zwei Jahre lang und hat, wie er sagt, „wohl alles gelesen, was der Dichter zu Papier gebracht hat“.
Die wichtigste Fundgrube war und ist für ihn das Deutsche Volksliedarchiv in Freiburg, das vor drei Jahren im Zentrum für populäre Kultur und Musik aufgegangen ist. Für ihr Programm zum hundertsten Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs mit dem Titel „Maikäfer flieg – Verschollene Lieder 1914-1918“ sichteten die Grenzgänger über 14.000 Gedichte und stöberten in Pappkartons nach Postkarten, auf denen Soldaten auf dem Feld ihre Lieder oder Liedumdichtungen notiert hatten. „Unsere Arbeit ist auch eine Art Gegengewicht zu den Bestrebungen der rechten Seite, den Heimatbegriff zu okkupieren“, stellt Zachcial fest und verweist auf aktuelle Tendenzen bei der AfD, sich als Hüter der Heimat aufzuspielen. „Im Grunde geht es mir darum, den Begriff ‚Heimatʻ zu entzaubern, aus der Verklärung herauszuholen und ihn in gewisser Weise zu erden. Anhand der Lieder und bestimmter Traditionen können wir fragen: Welche Heimat meint ihr denn?“ Bei der schwierigen Definition befindet er sich auf einer Ebene mit Ernst Bloch oder Kurt Tucholsky. Für Tucholsky war Heimat nicht an nationale Grenzen gebunden und ein Konzept, das im eindeutigen Gegensatz zum Begriff „Vaterland“ steht. Ernst Bloch schreibt in seinem Buch Das Prinzip Hoffnung: „Heimat ist etwas, was uns allen in die Kindheit scheint, wo aber noch niemand war.“ Insofern lässt sich Heimat als Prozess verstehen, der mit einer Suche nach und einer Vision von etwas Schönem verbunden ist. Für Michael Zachcial ist das neben der Schönheit der Natur eine „Ästhetik der Menschlichkeit“, wie er sie nennt.
Seit 1996 betreibt er neben den CD-Produktionen die Webseite volksliederarchiv.de. In Hochzeiten kommt diese ambitionierte Plattform auf 15.000 Klicks pro Tag. Vor etwa einem Jahr stellte Zachcial in konsequenter Umsetzung seines Mottos „Aufklärung statt Verklärung“ auch das sogenannte „Horst-Wessel-Lied“ mit dem Text „Die Fahnen hoch“ ein. Die herausragende Positionierung der Website in den Suchmaschinen, erläutert er, führe dazu, dass auch Menschen mit neonazistischen Beweggründen auf seinem Portal landen. Dort finden sie dann neben Quellenverweisen zur Melodie auch Informationen über die brutalen Aktivitäten des Nazischlägers Horst Wessel und werden auf Brechts „Kälbermarsch“ oder das Grenzgänger-Album Und weil der Mensch ein Mensch ist mit Liedern aus dem Widerstand gegen die NS-Diktatur und aus den Gefängnissen und Lagern des Hitler-Regimes aus dem Jahre 2015 aufmerksam gemacht. Michael Zachcial ist froh, dass jetzt nach diesem schwierigen Programm und trotz aller Lebenskraft, die die Lieder aus den Lagern vermitteln, sowie den Konzerten zum Ersten Weltkrieg ihn und seine Band mit „Brot & Rosen“ ein mit weniger Leid verbundenes Repertoire begleiten wird. Es gibt sogar köstliche Versionen von traditionellen Gassenhauern wie „O Tannenbaum“ und „Wenn alle Brünnlein fließen“. „Wir sind eben keine Politband. Wir haben großes Interesse an politischen Themen, aber nicht nur“, stellt er noch einmal klar.
Die Premiere des neuen Programms im denkmalgeschützten Sendesaal Bremen wurde noch vor dem Erscheinen des Albums vom Deutschlandradio Kultur für die Sendung In concert aufgezeichnet. Dazu Zachcial: „Die Zusage zu diesem Mitschnitt erfolgte, ohne dass die Redaktion vorher einen Ton gehört hatte, nur aufgrund des inhaltlichen Konzeptes. Dieses Vertrauen, das uns da entgegengebracht wird, ist ein schöner Erfolg unserer Arbeit und spornt uns weiter an.“
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