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Backkatalog   Ausgabe Nr. 4/2016   Internetartikel
»Die Weltmusikszene befindet sich in Deutschland in einer Parallelwelt.«
Showcase Nancy Vieira bei der Atlantic Music Expo 2016 * Foto: Tó Gomes, Atlantic Music Expo

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Weltmusik im Dschungel

Das Dilemma deutscher Kulturpolitik in der Entwicklungskooperation

Durch die aktuellen Entwicklungen weltweiter Migration und Flucht hat sich in Deutschland die Wahrnehmung von Musiken der Welt dramatisch verändert. So fokussieren sich bei der sozialen Integration von Flüchtlingen aus außereuropäischen Ländern wie Afghanistan, Syrien oder Eritrea Projekte zur kulturellen Teilhabe wie „Musik macht Heimat“, „Brückenklang“ oder „Kultur öffnet Welten“ auf lokale Musiktraditionen der Zugewanderten und setzen diese ohne genaue Kenntnis der Stile und Formensprachen oder der sozialen oder religiös-spirituellen Bedeutung in einen inter- oder transkulturellen Zusammenhang mit westlicher Musik. Andererseits erfordert die Identitätskrise Europas mit Grexit, Brexit, Sezessionsbestrebungen von Katalonien bis Tirol und dem Erstarken rechtspopulistischer Bewegungen eine neue Auseinandersetzung mit europäischen Werten, während die lokalen Musikkulturen neue Bedeutung als Ausdrucksformen kultureller Identität und politischer und sozialer Bewegungen gewinnen. Hier reicht das Spektrum von zivilgesellschaftlich widerständigen Minoritäten, die sich mit der Kraft ihrer Musiken gesellschaftlich positionieren und diese als Sprachrohr nutzen – wie die okzitanische oder baskische Bewegung – bis hin zur auch staatlich geförderten Renaissance nationaler Musiktraditionen etwa in Polen oder Ungarn.

Text: Birgit Ellinghaus

In diesen bewegten Zeiten tritt angesichts des Aktionismus von Kulturinstitutionen und Politik in den Hintergrund, dass über einen Zeitraum von gut vierzig Jahren bereits eine globale Szene von Bands, DJs, Festivals, Labels, Messen und Medien entstanden ist, die internationale Kooperation und musikalischen Austausch lokaler Musiken von überall praktiziert. Diese Szene bildet im Kontext von Globalisierung, Migration und Flucht eine Pluralität musikalischer Ausdruckformen ab, die einhergeht mit der Pluralität der multiethnischen Identitäten ihrer Protagonisten – Musiker, Festivalmacher oder Journalisten arbeiten gleichzeitig lokal wie weltweit. Werte wie Solidarität, Exzellenz, globale Verantwortung und internationale Zusammenarbeit stehen im Mittelpunkt ihrer Arbeit. So hat sich die Weltmusikszene lange auch als „gutes Beispiel“ und Vorreiter für praktischen interkulturellen Dialog und innovative Modelle der internationalen Zusammenarbeit in der Kultur- und Kreativwirtschaft verstanden, als positive Antwort auf die neuen Herausforderungen stetig voranschreitender Globalisierung und weltweiter Migration.
Trotz dieses Selbstverständnisses und obwohl die Szene musikalisch außerordentlich kreativ ist, befindet sie sich in Deutschland in einer Parallelwelt. Oftmals hoch spezialisierte weltmusikalische Profis werden von den Kulturinstitutionen und der Politik bei den Debatten zu brennenden gesellschaftlichen Aufgaben fast nicht beteiligt und nicht erreicht. Umgekehrt findet die Weltmusikszene in Deutschland nur schwer Gehör bei der Kulturpolitik und den Institutionen, um ihre Erfahrungen, Kenntnisse, Bedürfnisse, Themen und Notwendigkeiten einzubringen. Künstlerische, soziale und ökonomische Potenziale bleiben ungenutzt. Mehr noch, viele Festivals, Initiativen und Projekte kämpfen finanziell mehr denn je ums Überleben. Die ständig steigende Komplexität der Arbeitsbedingungen für internationale Bands verschärft sich durch die aktuellen Einschränkungen der Schengen-Regelungen und durch die erheblichen Kosten für die Visumsbeschaffung – Bedingungen, die von den durchweg freien Organisationen und Veranstaltern immer schwerer zu stemmen sind. Vertreter global-lokaler Musik aus Deutschland sind auf dem internationalen Musikmarkt, auf Musikmessen wie WOMEX oder Babel Med Music eher die Ausnahme. Fachkuratoren mit Schwerpunkt Musiken der Welt werden im Rahmen der zahlreichen Kulturmanagement-Studien- und Lehrgänge nicht ausgebildet. Qualifizierte Koproduktionen mit Ensembles lokaler Musik aus Afrika, Asien oder Lateinamerika haben kaum eine Realisierungschance, weil der institutionelle Rahmen für Proben, Aufenthalte und Auftritte fehlt und der freie Markt dafür keine ausreichende Finanzierung bietet. Medial gesehen, findet Weltmusik im öffentlich-rechtlichen Rundfunk kaum noch statt.

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