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Editorial
Liebe Musikfreundinnen und -freunde,
als junger Erwachsenen schien mir eine gerechte, tolerante und friedliche Welt relativ einfach erreichbar, und so habe ich mich mit Gleichgesinnten dafür eingesetzt. Aber bald reifte die Erkenntnis, dass Überzeugungsarbeit nicht viel bringt. Heute bin ich der Meinung, dass vor allem Menschen, die mit gutem Beispiel vorangehen, einen friedlichen Wandel herbeiführen können. Zu diesen Menschen gehört die Berliner Rechtsanwältin, Frauenrechtlerin und Autorin Seyran Ateş, die sich seit vielen Jahren für die Belange der Frauen einsetzt. Dafür hat die gläubige Muslimin immer wieder Morddrohungen erhalten, ein Attentat verletzte sie lebensgefährlich. Im vergangenen Jahr nun hat sie in Berlin unter großer, auch internationaler Medienpräsenz ein einzigartiges Projekt eröffnet, das sie auch initiiert und mitbegründet hat: die liberale Ibn-Rushd-Goethe-Moschee. Hier beten Frauen und Männer gemeinsam, die Frauen müssen kein Kopftuch tragen, das Gebet wird von einem Imam und einer Imamin geleitet, schwule und lesbische Muslime sind willkommen. Die Moschee befindet sich zurzeit noch in einem Gebäude der St. Johanniskirche in Moabit, bis Geld für ein eigenes Haus zusammengetragen ist. Eine längst fällige, aber in Anbetracht der Bedrohung von Ateş auch sehr mutige Initiative, die ihr nun Personenschutz rund um die Uhr eingebracht hat. Trotzdem sagte sie Anfang Dezember in einem Interview mit der österreichischen Tageszeitung Die Presse: „Wir haben festgestellt, dass es viele verschiedene Auslegungen des Islams gibt. Daher bin ich der absoluten Überzeugung, dass der Islam beweglich ist. Es ist eine liberale, eine zeitgemäß kritische Lesart möglich, die dann wiederum dazu führt, dass es nicht nur einen liberalen europäischen Islam gibt, sondern dass auch weltweit ein Islam vorstellbar ist, der sich der Moderne anpasst. Die islamische Welt, wie wir sie heute sehen – von Marokko bis Indonesien, die Türkei, Afghanistan, Pakistan eingeschlossen –, ist geprägt von einer Rückständigkeit und teilweise auch einer Rückentwicklung. Weg von den sogenannten westlichen Werten, weg von der Zivilgesellschaft, weg vom Rechtsstaat. Das bereitet vielen jungen Menschen Sorge. Ich glaube an die Stärke der jungen Menschen, die zeitgemäß leben wollen. Und ich glaube daran, dass diese jungen Menschen etwas verändern werden.“ Der Mut von Seyran Ateş ist bewundernswert, und ich wünsche ihr allen Erfolg.
Mit dieser Ausgabe feiert der Folker sein zwanzigjähriges Bestehen. Lesen Sie auf den Seiten 30 und 31 die Gedanken von Liederjan-Mitbegründer Jörg Emisch und dem Dresdner Veranstalter Andreas Grosse zu unserem Jubiläum. Wir freuen uns darüber, dass wir trotz gelegentlicher Unwetter immer noch als Printmagazin erscheinen können, und danken unseren |
Leserinnen und Lesern für ihr Interesse und unseren Abonnenten für ihre jahrelange Treue. Aber wir könnten noch mehr Abos gut gebrauchen, denn sie bedeuten für uns Planungssicherheit. Überlegen Sie doch mal, ob Sie, wenn Sie den Folker nur gelegentlich kaufen, ihn nicht doch abonnieren möchten oder ob Sie jemandem mit einem Geschenkabo eine Freude machen könnten. Gute Gründe dafür bietet mit ihrer besonderen Themenmischung auch diese Jubiläumsausgabe. So porträtiert Michael Kleff in der Titelgeschichte die Singer/Songwriterin und politische Aktivistin Ani DiFranco, die auch schon in unserem ersten Heft 1998 Titelthema war. Bis heute hat sie nichts von ihrer Klarheit und Unbeirrbarkeit in ihrem Kampf für Gerechtigkeit verloren. Auch zwei andere Institutionen der Szene feiern beziehungsweise feierten runde Geburtstage: Ende Januar findet die dreißigste Internationale Kulturbörse in Freiburg statt, und bereits im vergangenen Jahr jährte sich die Gründung des Berliner Labels und Veranstalters Piranha ebenfalls zum dreißigsten Mal. Beide stellen wir Ihnen im „Heimspiel“ vor. Im „Gastspiel“ ziehen Achim Bergmann und Brendan Erler vom Musikverlag und Label Trikont eine skeptische Bilanz über Einkünfte für Künstler und kleine Labels durch digitale Musiknutzung. Die Wege des Weltmusikers Paddy Bush von Madagaskar bis Irland und seinen Einfluss auf seine Schwester Kate beschreibt Stefan Franzen auf den Seiten 38 bis 40.
Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der Lektüre
Ihre Folker-Chefredakteurin Sabine Froese |
Post aus dem Beirat
Meine Tochter wollte immer in den Zoo, Affen gucken. Wir sind dann jedes Jahr – ich damals schon mit schlechtem Gewissen – nach Hamburg zu Hagenbeck. Wie hieß es doch in dem Operettensong: „Gehʼn wir mal zu Hagenbeck, Hagenbeck, Hagenbeck …“ Generationen haben das zusammen mit „Puppchen, du bist mein Augenstern“ geträllert, und es war „Volksgut“, wie die Volkskundler sagen. Es stammte aus Puppchen, Posse mit Gesang und Tanz in 3 Akten mit Musik von Jean Gilbert, und bei jedem Dorffest wurde das geschmettert: „Weltbekannt hier auf der Erde, / überall auf jedem Fleck, / bei der kleinsten Affenherde, / ist der Name Hagenbeck. / Er holt Löwen, Panther, Rinder / aus dem tiefsten Urwald raus, / und mit ein paar olle Inder / stellt er sie dann aus.“
Hagenbeck zeigte eben nicht nur Affen und Tiger, sondern auch „olle Inder“, und ich zitiere aus Wikipedia: „Blütezeit der Völkerschauen in Europa war zwischen 1870 und 1940. Allein in Deutschland wurden in dieser Zeit über 300 außereuropäische Menschengruppen vorgeführt. Teilweise wurden in diesen ‚anthropologisch-zoologischen Ausstellungen‘ gleichzeitig über 100 Menschen zur Schau gestellt. Völkerschauen waren Massenveranstaltungen, die ein millionenfaches Publikum in Europa und Nordamerika anlockten. Sie fanden auch abseits der Großstädte in mittelgroßen und kleinen Städten statt. […] … so wurde 1937 ein ‚Eingeborenendorf‘ im Düsseldorfer Zoo gezeigt. Von 1935 bis 1940 tourte die Deutsche Afrika-Schau durch das Deutsche Reich … […] Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es in Deutschland kaum noch Völkerschauen (so auf dem Oktoberfest 1950 eine Apachen-Show, 1951 und 1959 an gleicher Stelle je eine unter dem Thema Hawaii) – die Sehnsucht nach Exotik bedienten nun Film und Fernsehen sowie die aufkommenden Fernreisen.“ So weit Wikipedia.
Heute fahre ich mit meiner Tochter natürlich nicht mehr in den Zoo, ist ja politisch beziehungsweise „animalisch“ nicht mehr korrekt. Wir fahren nach Rudolstadt. Exotenshow. Originale Eingeborene auf originalen Instrumenten … Original Hagenbeck.
Rainer Prüß
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