Liebe Musikfreundinnen und -freunde,
wenn es in dieser selbstbezogenen Welt schon eine Firma gibt, die I-Phones und I-Pads herstellt, dann muss es doch auch legitim sein, wenn ich ein „I-ditorial“ schreibe. Richtig, dieses Editorial ist zumindest in Teilen mir selbst gewidmet, wobei ich vorauseilend versichere: Das bleibt die absolute Ausnahme, und ich habe wegen der aktuellen politischen Lage auch ein ziemlich schlechtes Gewissen.
Was mich bewegt ist Folgendes: Ich weiß zwar nicht genau, wo die statistische Lebenserwartung meines Jahrgangs liegt, aber sie dürfte sich unterhalb von achtzig Jahren bewegen. Daher kann ich ab dieser Ausgabe mit Fug und Recht behaupten, dass ich wahrscheinlich mehr als mein halbes Leben damit verbracht habe, eine Folkzeitschrift herauszugeben. Genau vor vierzig Jahren, also im November/Dezember 1977, erschien die Nullnummer der Zeitschrift Michel — oder Michel Folkzeitung, wie ich das Druckwerk aus einem mir nicht mehr präsenten Grund anfänglich betitelte. Wollte ich aus einem fotokopierten 12-Seiten-Blättchen etwa eine Wochenzeitung entwickeln? Zuzutrauen gewesen wären mir solche Pläne wegen meines damaligen übergroßen Enthusiasmus durchaus. Dabei war doch schon der Zeitpunkt für eine neue Folkzeitschrift denkbar dämlich gewählt. Irish Folk war zwar populär wie eh und je, aber die wunderbare Deutschfolkwelle hatte gerade ihren Scheitelpunkt erreicht, und da ist jedem Surfer klar: Vergiss es, damit komme ich nicht weit.
Aber solches Denken war mir so was von fern. Keine Kalkulationen oder Analysen, nein, pure Begeisterung, angefacht durch Bands wie die Dubliners, Fairport Convention und John Mayall’s Blues Breakers oder deutsche Künstler wie Hannes Wader, Liederjan oder Zupfgeigenhansel und nicht zuletzt – es ist schon fast Folkzeitschriftenlegende – das Sandy Bell’s Broadsheet aus gleichnamiger Kneipe in Edinburgh, was mir in seiner simplen Aufmachung signalisierte: Es bedarf keines großen Apparates, keiner Unsummen und riesigen Investitionen, keines Studiums der Volkskunde oder Journalistik, um so etwas anzuschieben. Du musst einfach nur machen, einfach anfangen. Und angefangen habe ich mit einer Anzeige in der Augustausgabe der damaligen Musikzeitschrift Sounds (das war wirklich ein tolles Blatt!), die sich so las: „Folkfreunde geben ab Herbst 1977 eine spezielle Folkzeitung heraus. Wir brauchen noch viele interessierte Leute, die als freie Mitarbeiter mitmachen wollen.“ Von überwältigender Resonanz zu sprechen, wäre wohl übertrieben, aber eine gute Handvoll Interessenten waren es sicherlich. Zwei davon sind heute noch mit an Bord, vornehmlich als Rezensenten: Walter Bast und Roland Schmitt. Ein bewundernswertes Durchhaltevermögen und meinen allerherzlichsten Dank! Ziemlich schnell stießen dann weitere Akteure hinzu, die ebenfalls heute noch aktiv sind. Bernhard Hanneken zum Beispiel, lange Jahre Chefredakteur und seit Gründung des Tanz- und Folkfestivals Rudolstadt bis heute zum Rudolstadt-Festival dessen künstlerischer Leiter — damals allerdings verkaufte er noch mit mir den Michel für 50 Pfennige am Eingang zu den legendären Folk-Blues-Live-Abenden im Bonn Center. Oder mein guter Freund Uli Joosten, der im ebenso legendären Folklokal Tinnef in Köln vom Michel-Virus infiziert wurde und bis heute nicht davon losgekommen ist. Im Gegenteil, als Mitglied des Redaktionsteams vom Folker ist er engagiert wie eh und je.
Interessant scheint mir, dass ziemlich genau zu der Zeit, als wir versuchten, den Michel auf der Szene zu etablieren, der Stadionrock kurzerhand vom Punk auf den Kopf gestellt wurde. Lautstärkenmäßig sind Folk und Punk natürlich Welten voneinander entfernt, auch wenn die Pogues beides Mitte der Achtzigerjahre zusammenführten, aber in gewisser Weise sind sich beide Genres auch ziemlich ähnlich: Beide kokettieren mit Simplizität beziehungsweise den berühmten drei Akkorden, und ganz besonders galt für beide Musikarten das Motto „DIY“, also „Do it yourself“. Billy Bragg ist mehr noch als die Pogues ein lebender Beweis dafür, dass diese Attitüde in beiden Szenen vorherrschte und sich beide Stile verbinden ließen. Und während die meisten Punkbands irgendwann ausgebrannt waren oder ins |
kommerzielle Lager gewechselt hatten, gilt für einen großen Teil der Folkszene das DIY-Motto – egal ob mit oder ohne Internet – noch heute.
Ebenfalls bereits in den Achtzigerjahren standen wir für eine Musik ohne Ghettobildung. Der Michel hatte zwar ungerechtfertigterweise das Image eines Irish-Folk-Blättchens (hätte das gestimmt, hätten wir spürbar erfolgreicher sein müssen), tatsächlich jedoch war das Heft die Heimat von Folk aus aller Welt, Blues, Liedermachern oder Singer/Songwritern. Diese Genres hatten und haben für uns vergleichbare, oft auch politische Wurzeln. Ein solcher musikalischer Gemischtwarenladen war und ist kommerziell hanebüchen, aber inhaltlich im wahrsten Sinne des Wortes um Welten spannender als eine Beschränkung zum Beispiel nur auf den keltischen Raum.
Allerdings waren es dann irgendwann in den Neunzigerjahren mehr oder weniger dieselben plus minus 1.000 Menschen, die den Folk-Michel (so sein letzter offizieller Titel) abonniert hatten, was nach zwanzig Jahren zu einem Auf-der-Stelle-Treten mit der daraus resultierenden Frustration führte. Uns fehlte ein Verlag, wir konnten und wollten nicht immer alles selbst machen. Und warum bearbeitete in Leipzig eine andere Zeitschrift ein ziemlich ähnliches Gebiet, ebenfalls ohne Verlag? Folksblatt-Chef Jürgen Brehme sah das ähnlich, Gespräche wurden geführt, der Christian Ludwig Verlag setzte sich mit ins Boot, und das Resultat namens Folker hat mit diesem Heft seinen zwanzigsten Jahrgang abgeschlossen. Mehr zu diesem Geburtstag garantiert in der kommenden Ausgabe, und ich verspreche: Es wird schon ein bisschen besonders werden.
Die Zeit von 1977 bis 1997 und weiter bis 2017 ist eine verdammt lange, und es gibt ganz ohne Frage Tage, an denen ich mich wundere: Warum mache ich das eigentlich immer noch? Die erträumte Auflage von 10.000 Exemplaren werde ich in diesem Leben wohl nicht mehr erleben. Und dann weiß ich trotzdem die Antwort: Weil das Feuer für diese Musik immer noch brennt, auch nach vierzig Jahren. Das Feuer für ehrliche, simple ebenso wie virtuose Musik aus aller Welt, mit einer Prise Humor und der Begeisterung für eine linke, gewaltlose und herrschaftsfreie Politik. Möge dieses Feuer noch lange brennen.
Viel Spaß mit dem Jahrgangsabschlussheft wünscht
Ihr Folker-Herausgeber Mike Kamp |