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Editorial
Liebe Musikfreundinnen und -freunde,
das Jahr 2016 hat uns im eigenen Land, in Europa und darüber hinaus einen weiteren politischen und kulturellen Rückschritt in Richtung Nationalismus eingebracht.
In Deutschland haben viele die zu uns geflohenen Menschen zum Anlass genommen, sich von Mitmenschlichkeit, Solidarität und Demokratiekonsens zu verabschieden und in
nationalistischen Parteien wie der AfD ein Allheilmittel für die Lösung aller Probleme zu suchen.
Auch im Vereinigten Königreich unterlagen die besseren Argumente den diffusen Ängsten, zu kurz zu kommen, was im Juni 2016 mit einem knappen Abstimmungsergebnis zur Befürwortung des Brexits führte – allein die wirtschaftlichen Nachteile für Großbritannien und Nordirland sind noch nicht abzusehen. In der Türkei wird die freie Presse nach und nach rigoros ausgeschaltet und politische Gegner Erdoğans werden unter fadenscheinigen Vorwänden ins Gefängnis geworfen oder verlassen das Land. Ungarn schwimmt schon lange auf einer Welle des Nationalismus, und Polen erlebt seit dem Wahlsieg der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit im Oktober 2015 eine Demontage des Rechtsstaates – unliebsame Bedienstete wie etwa die Chefin des Polnischen Institutes in Berlin werden abberufen. Von Trump möchte ich gar nicht erst anfangen.
Aber zurück nach Deutschland. Befeuert werden die Entwicklungen in Richtung Populismus und Nationalismus auch durch die inhaltlich verflachten, dafür zunehmend emotionalisierten Betrachtungsweisen komplexer Sachverhalte in Medien und Politik. Sachlich-konstruktive Debatten werden viel seltener als früher geführt und gelten mittlerweile als schwer vermittelbare „Quotenkiller“. Doch die Probleme einer zunehmend global vernetzten Politik und Wirtschaft lassen sich nicht mit Zehn-Punkte-Posts analysieren. Von diesem Trend zu Vereinfachung und Polarisierung profitiert auch die AfD und macht ihn sich zunutze, in dem sie bei Themen wie der sogenannten Flüchtlingskrise auf der Klaviatur der Ängste spielt. Der Ton in der öffentlichen Auseinandersetzung ist schärfer geworden, bis zur Gewalttätigkeit. So trat erst im Dezember der Bocholter SPD-Vorsitzende von seinem Amt zurück, nachdem nicht nur er, sondern auch seine Familie in fremdenfeindlich motivierten Hassmails massiv bedroht worden waren.
Wenn wir nicht aufpassen, verroht unser gesellschaftliches Klima dauerhaft. Ein wirkungsvolles Mittel dagegen wie auch gegen Ängste und Vorurteile – zum Beispiel gegenüber Flüchtlingen – sind Informationen und Foren der Begegnung. Hier sehe ich die Medien – vor allem die öffentlich-rechtlichen – in einer besonderen Pflicht, Hintergründe zu beleuchten, aufzuklären und Debatten zu führen und anzustoßen, und zwar in allen gesellschaftlichen Bereichen, auch dem der Kultur. Leider orientiert sich aber zum Beispiel der öffentlich-rechtliche Rundfunk in den letzten Jahren fatalerweise |
immer mehr am Quotenmodell der Privaten und hat sich dabei Stück für Stück von seinem Bildungsauftrag entfernt. Auch in den Sparten Folk, Lied und Weltmusik wurde der Anspruch aufgegeben, ausführlich über diese Musikstile jenseits des Mainstreams zu berichten. Da diese Prozesse, die Musikprogramme nach und nach in Richtung Durchhörbarkeit umzubauen, weitgehend von der Öffentlichkeit unkommentiert ablaufen, haben wir uns entschieden, diesem Thema eine Titelgeschichte zu widmen, die Sie auf den Seiten 22 bis 27 dieser Ausgabe finden. Unser Autor Stefan Franzen hat dazu ausgiebig recherchiert, was sich zum Teil recht mühsam gestaltete, da manche der angefragten Rundfunkanstalten sich entweder nur verspätet, erst auf mehrmaliges Nachfragen oder gar nicht äußerten – kein offensiver Umgang mit Programmveränderungen, die in Pressemitteilungen und Interviews doch als Fortschritt verkauft werden.
In die Offensive gegen rechten Populismus und dumpfe Gewalt geht das Büro für Offensivkultur, das Heinz Ratz gemeinsam mit unserem Beiratsmitglied Konstantin Wecker gegründet hat, um eine schnelle kulturelle Eingreiftruppe gegen Rechts auf die Beine zu stellen. Ratz’ Gastspiel hierzu möchte ich Ihnen ebenso ans Herz legen wie unsere anderen Artikel, etwa über die irische Band Goitse, den estnischen Chor Heinavanker, die afrikanische Reggaeszene, die britische Folksängerin Emily Portman, den Waliser Liedermacher Martyn Joseph oder die Weltmusikurgesteine von Embryo.
Ich wünsche viel Freude mit unserem ersten Heft des Jahres 2017 und alles Gute für das neue Jahr.
Ihre Folker-Chefredakteurin Sabine Froese |
Post aus dem Beirat
Ich bin mit Plattdeutsch aufgewachsen, nicht ausschließlich, aber intensiv. Das Hochdeutsche dazugerechnet, bin ich also muttersprachlich zweisprachig. Zwei neunjährige Jungen aus der Nachbarschaft erzählten mir neulich, sie hätten untereinander gegenüber anderen Jungen eine Geheimsprache: Plattdeutsch. Das wäre super, dann brauchte man nicht flüstern. Aber sie wären damit schon als Ausländer beleidigt worden. Nun, wieso das eine Beleidigung sein soll, wäre noch ein anderes Thema. Ich jedenfalls, bin ein ganz reaktionärer, rassistischer und andere Menschen diskreditierender Typ. Ich kann aber nicht anders und will auch nicht anders. Ich singe nämlich plattdeutsch, und das aus gutem Grund. Vieles, was ich mitteilen, also mit anderen teilen möchte, lässt sich auf Hochdeutsch nicht sagen. Die hochdeutsche Sprache gibt das nicht her. Geht einfach nicht. Wenn ich auf Platt singe, verstehen es also nur plattdeutsch Aufgewachsene. Alle Nichtplattdeutschen oder „platt Angelernten“, die meinen, sie würden schon verstehen, haben allenfalls eine Ahnung von dem, was ich versuche mitzuteilen. Ich schließe also nicht nur Bayern und Schwaben, sondern auch Kirgisen, Eskimos oder Menschen aus Belutschistan aus, aber wenn ich über meine Erlebnisse beim Segeln im schlickigen Wattenmeer singe, würden die eh nichts verstehen, selbst wenn ich das auf Kirgisisch oder Englisch täte. Pete Sage, der Geiger von Santiano, mit dem ich früher mindestens zwanzig Jahre Platt- und English Folk gespielt habe, meinte, die Probleme wären alle weg, wenn alle endlich nur englisch sprechen würden. Wir sind da uneins. Ich glaube wir hätten viel mehr Probleme mit der Verständigung, weil es gar nicht auffallen würde, dass wir uns eigentlich nicht verstehen, weil wir die gleichen Worte mit ganz unterschiedlichen Erlebensinhalten oder Vorstellungswelten füllen würden. Wer also kein Platt kann – tut mir leid, ihr seid außen vor. Und ich bin elitär, ignorant, reaktionär, rassistisch und überhaupt blöde!
Rainer Prüß
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