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Editorial

Liebe Musikfreundinnen und -freunde,

weil die Not immer größer wird, hat sich die Situation der Flüchtlinge, die in Europa und Deutsch­land Hilfe su­chen, in den letzten Wochen und Monaten dramatisch zugespitzt. So sind im Juli mit etwa fünfzigtausend so viele Zuflucht Suchende über die Grenzen nach Grie­chen­land gekommen wie im gesamten Jahr 2014. Im französischen Calais versuchten allein am 29. Juli über hundert Geflüchtete über den Eurotunnel nach Großbritannien zu gelangen, seit Anfang Juni sollen bei diesem Versuch bereits neun Menschen ums Leben gekommen sein. Nach der Sicherung des Hafens, von wo in der Vergangenheit viele auf eingeschifften Lastwagen über den Ärmelkanal geflohen waren, weichen die Verzweifelten nun auf den Tunnel aus. Jetzt sollen auch dort die Sicherheitsmaßnahmen verschärft werden, denn der Frachtverkehr wird dadurch zum Teil empfindlich gestört und die längeren Wartezeiten verursachen zusätzliche Kosten für das Transportwesen – so werden Schicksale zu Kostenfaktoren. Eine weitere erschütternde Nachricht kam am 6. August, als wieder ein nicht seetüchtiges Schiff vor Libyen mit diesmal etwa sechshundert Menschen an Bord kenterte, ungefähr zweihundert Flüchtlinge verloren dabei ihr Leben. Seit Beginn des Jahres ertranken damit im Mittelmeer bereits 2.200 Menschen bei dem Versuch, nach Europa zu fliehen, und ein Ende ist nicht abzusehen.
In Sicherheit sind die vor Krieg, Unterdrückung und Armut Geflohenen auch in Deutschland aber nicht, denn in der gesamten Republik zünden hasserfüllte Neonazis und „besorgte Bürgerinnen und Bürger“ Flüchtlingsunterkünfte an, verprügeln und bedrohen die Notleidenden und zum Teil auch ihre Unterstützer. Besonders unrühmlich fiel das sächsische Freital südwestlich von Dresden auf, wo gewaltbereite Rechte und ihre Sympathisanten regelmäßig vor einer Asylantenunterkunft für Krawalle sorgten. In dieser bedrückenden Lage setzte ein anonymer Künstler – Geschlecht unbekannt – ein starkes Zeichen, um zu Zivilcourage zu ermutigen: In einer Art heimlicher Guerillaaktion hängte er in Freitaler Werbeanlagen Plakate auf mit Losungen wie „Refugees welcome“, „Der Fuchs ist schlau und stellt sich dumm. Der Nazi macht es andersrum.“ oder „Wer kein Selbstbewusstsein hat, braucht ein Nationalbewusstsein“. Eine ausgesprochen mutige Aktion, die wieder einmal beweist, wie wichtig politisches Handeln von Künstlern ist.
Welche Chancen in der Begegnung mit Flüchtlingen liegen können, kommt generell kaum zur Sprache. Dabei kann die Annäherung und Aufnahme der unfreiwilligen Zuwanderer auch zu einem bereichernden Kulturaustausch werden – so auch die Schlussfolgerung unseres Autors Stefan Sell in seinem Fünfminüter über den heute in Istanbul lebenden syrischen Sänger Oumar Souleyman auf Seite 20.
„Jeder Mensch, nicht nur Künstler, sollte an seiner Stelle nach seinen Möglichkeiten Verantwortung für die Welt, in der er lebt, übernehmen, und jeder kann damit vor seiner eigenen Haustür beginnen“
SABINE FROESE * Karine Azoubib – so bringt es Reinhard Mey auf den Punkt. Auch fünfzig Jahre nach seinem ersten Bühnenauftritt gibt der Liedermacher, was er zu sagen hat, lieber in seinen Stücken als in Interviews zu Protokoll. Umso mehr freut es uns, dass er anlässlich der Veröffentlichung seines aktuellen Doppelalbums Dann mach’s gut – live einem Gespräch mit Michael Kleff für den Folker zugestimmt hat. Sie können es auf den Seiten 56-57 lesen.
Das geplante Transatlantische Freihandelsabkommen TTIP hat viele Gegner, nicht nur Umwelt- und Bürgerrechtsbewegungen wie den BUND, Attac, Brot für die Welt oder den Deutschen Gewerkschaftsbund. Auch der Deutsche Kulturrat, Spitzenverband der deutschen Kulturverbände in Berlin, warnt unaufhörlich vor den möglichen negativen Folgen von TTIP. In diesem Zusammenhang konnten wir dessen Geschäftsführer, Olaf Zimmermann, dafür gewinnen, im Folker ausführlich zu erläutern, worin die Gefahren dieses Handelsabkommens für den Kultursektor liegen.
Bevor ich Sie nun in die Lektüre des aktuellen Heftes entlasse, möchte ich mich herzlich bei unserem langjährigen Autoren Hans-Jürgen Schaal bedanken, der mit seiner Serie „Instrumente der Welt“ einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der weltweiten Musikkulturen geleistet hat und sich nun anderen Projekten widmen möchte. Bereits in der letzten Ausgabe haben wir mit der losen Folge „Zeitsprung“ begonnen, in der Ralf Gehler die historischen Wurzeln von Folk, Lied und Weltmusik näher beleuchtet.
Und damit wünsche ich Ihnen viel Freude und interessante Entdeckungen beim Lesen unserer September/Oktober-Ausgabe.


Ihre Folker-Chefredakteurin
Sabine Froese