Rezensionen der Ausgabe 2/2020
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HOFFNUNGSBRINGER STATT ZYNIKER
| STOPPOK Jubel mit Texten u. Infos (Grundsound)
Die Frage, ob eine neue Veröffentlichung in der Rubrik „Die Besondere“ landet, stellt sich bei Stoppok nicht. Einzigartig im deutschsprachigen Raum sind sein Schaffen, seine Vielfältigkeit und seine Virtuosität. Stoppok ist der Inbegriff des „ehrlichen“ Musikers, ein Image, das Künstler wie Westernhagen oder Lindenberg bestenfalls simulieren können. Egal, ob er sich dem Blues, dem Rock, Folk oder einer anderen musikalischen Spielart widmet, Stoppok klingt immer, als wäre diese Musik nur für ihn oder von ihm gemacht. Dass der Künstler in Sachen Ruhm hinter den Grönemeyers dieser Welt zurückbleibt, ist für uns ein Segen – so bleibt der Markenname Stoppok eben Stoppok, ohne großen Sponsor, ohne angepasstes Mainstreamgedudel, der Archetyp des Indie-Singers/Songwriters. Was aber zeichnet nun konkret das achtzehnte Album des Künstlers aus? Zum Beispiel verzichtet Stoppok bei Jubel auf seinen gefürchteten Zynismus. Unverändert sind seine Texte augenzwinkernd, und noch immer legt er die Finger auf Wunden, aber der beißende Sarkasmus fehlt. In einer schwierigen Welt, die dem billigen Humor der Comedians zahllose Vorlagen bietet, kommt der Umschwung Stoppoks zur rechten Zeit. Ob er zur Müllerzeugung ermuntert oder unsere Wohlstandsgesellschaft verjubelt, man bekommt trotz ernster Themen gute Laune. Das macht Mut, den wir wohl alle gerade gut gebrauchen können, und so findet sich Stoppok in einer ungewohnten Rolle wieder, als Hoffnungsbringer statt als Satiriker. Mit „Lass sie alle rein“ schafft er sogar eine Hymne, die nicht nur als Antwort auf die Geflüchtetenkrise taugt, sondern in ihrer schlichten Wahrheit allumfassend wirkt. Einen drauf setzt noch der Song „Geld oder Leben“, der nicht von Gangstern, sondern von einer fundamentalen Frage unserer Gesellschaft (also doch von Gangstern) handelt. Eine Antwort bietet Stoppok mit „Kein Update“ gleich mit. Eine Antwort, die uns nicht gefällt, aber so ist das mit der Wahrheit nun einmal. Chris Elstrodt
| DAS WESEN DER MENSCHLICHEN NATUR
| KROKE Rejwach (Oriente)
Krakau (poln. Kraków, Hauptstadt Polens bis 1609) galt einst als eine der typisch jüdischen Städte – um 1900 betrug der jüdische Bevölkerungsanteil rund 28 Prozent. Nazistischer Rassenwahn und Vernichtungspolitik sowie später Abwanderung bzw. Überalterung der jüdischen Bevölkerung ließen die Stadt um 1968 fast „judenrein“ werden. Erst ab Mitte der Achtziger entstand eine Art Renaissance jüdischer Tradition, was sich u. a. auch in der Durchführung eines alljährlichen Jüdischen Kulturfestivals ausdrückt. 1992 schlossen sich Jerzy Bawoł (acc), Tomasz Kukurba (v, perc, voc) und Tomasz Lato (b) zum Trio Kroke zusammen. Die Absolventen der örtlichen Musikakademie hatten ausreichende Möglichkeiten, in der Geschichte ihrer Heimatstadt herumzukramen, um auf der Basis traditionellen musikalischen Materials Neuarrangements sowie die Grundlagen für ihre Improvisationen zu kreieren – anfänglich als reine Klezmerband, so mit ihren ersten beiden Alben (1993, 1995/6), später jedoch mit dem „Anspruch, das Wesen der menschlichen Natur und ihrer fundamentalen Emotionen zu übermitteln“ (so die Textbeilage zu ihrer dritten Veröffentlichung mit dem Titel Eden, 1997). Die Musik ihres hier nun vorliegenden Albums entstand speziell für eine Theaterproduktion namens Rejwach (jidd. für „Ertrag, Gewinn“), basierend auf einer Buchvorlage von Mikolaj Grynberg, der sich vor allem auf die Geschichten Holocaustüberlebender (wie etwa seiner eigenen Großeltern) konzentrierte. Im Oktober 2018 wurde dieses von Ester Rachel (1870-1925) und Ida Kamińska (1899-1980) geschriebene Stück im Jüdischen Theater in Warschau uraufgeführt, wenngleich das Album erst ein ganzes Jahr später erschien. Auch wenn der konkrete Inhalt des Stückes für den Zuhörer nicht greifbar wird (dem Album ist bedauerlicherweise keinerlei zusätzliche Information beigelegt), ist deutlich die Fähigkeit des Trios erkennbar, Stimmungen und Gefühle über die Musik auszudrücken. Vermutlich dramatische wie aber auch freudige Ereignisse wirken auf den Zuschauer, so wie wir es heutzutage insbesondere aus Filmen kennen, durchaus intensivierend, aber eben auch auf den reinen Zuhörer. Matti Goldschmidt
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WELTENBÜRGERIN UND WELTENWANDERIN
| INGER NORDVIK Time (Asta Records)
Eine Sängerin mit ausdrucksstarker Stimme, Klavierbegleitung als wesentlicher Akzent – es scheint so, als hätte für diese Art von Musik jedes Jahrzehnt sein Referenzalbum. Von Joni Mitchells Blue über Kate Bushs The Kick Inside bis zu Little Earthquakes von Tori Amos. In diesem Jahrzehnt nun also Inger Nordvik mit Time. Es ist erstaunlich, wie eine Stimme gleichzeitig so zart und kraftvoll klingen kann, wandelbar und ausdrucksstark und dennoch geradlinig. Der Vergleich mit Kate Bush liegt wirklich auf der Hand, wobei man mit einer solchen Erwartungshaltung Inger Nordvik sicher keinen Gefallen erweist. Die nordischen Folkanteile zum Beispiel dürfen auf keinen Fall unerwähnt bleiben. Die filigran gespielte Geige erzeugt die typische Sehnsucht skandinavischer Weisen. Das Klavier, allgegenwärtig in der Begleitung, klingt mächtig und zerbrechlich gleichermaßen. Der sperrige Jazzanteil von Time wird maßgeblich von Bassist Karl Erik Enkelmann und Schlagwerker Dag Magnus Narvesen gestaltet. Die klassischen Wurzeln der Sängerin sind deutlich hörbar, auch Elemente aus Pop und Rock sind prominent vertreten. Die unterschiedlichen Gefühle, die innerhalb nur eines einzigen Stückes hervorgerufen werden, fordern den Hörer. Man möchte der Stimme hinterherträumen und wird stattdessen mit einem zornigen Text über die Willenlosigkeit der Politik in Sachen Klimawandel konfrontiert. Man möchte sich in die Musik verlieben und hineinschmiegen, doch die Künstlerin schimpft in den Texten über die fehlende Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. So erlebt der Hörer ein Wechselbad der Gefühle, ein Eindruck, der durch immer neue musikalische Wendungen und Improvisationen noch verstärkt wird. Die musikalische Reife von Time erreichen nur wenige Künstler – Inger Nordvik schafft es bereits mit ihrem Debüt. Das Wesen des Albums entspricht dem Wesen der Künstlerin als Weltenbürgerin und Weltenwanderin, ohne Zeit, ohne Raum, jedes neue Hören entspricht einer neuen Reise. Chris Elstrodt
| ALLE MENSCHEN WERDEN BRÜDER
| YORKSTON THORNE KHAN Navarasa : Nine Emotions (Domino Records, Download)
Es gibt nicht viele Fusionsprojekte aus den Bereichen Folk, Jazz und Weltmusik, die tatsächlich überzeugend funktionieren, und es ist noch seltener, dass eine Gruppe mit der Mixtur dieser drei Genres einen absolut eigenständigen und schlüssigen Sound erschafft, Musik, die es vorher so noch nicht gab. Den drei Herren Yorkston, Thorne und Khan ist genau das mit ihrem ersten Album Everything Is Sacred gelungen. Ein Zufallstreffer, könnte man meinen. Navarasa : Nine Emotions beweist das Gegenteil. Die Musik wirkt tiefer, ausgereifter, durchdachter und gleichzeitig emotionaler als zuvor. James Yorkston spielt mit Gitarre und Mundharmonika den Folkie-Part, obwohl – Vorsicht! Wenn man sorgfältig lauscht, wie er einen traditionellen Song wie „The Shearing’s Not For You“ interpretiert, dann klingt das eher nach Indie als nach Folkie. Suhail Yusuf Khan ist ein Meister der gestrichenen indischen Sarangi mit ihrem eigentümlichen Klang, der die Kunst des Sufigesangs ebenso beherrscht und diese Elemente passend und immer eigenständig in teils westliche Melodiestrukturen einfügt. Jon Thorne schließlich, der versierte Kontrabassist der Gruppe Lamb und anderer Projekte, ist sozusagen das grundierende Bindeglied zwischen Ost und West. Navarasa – die neun Emotionen von Ärger über Lachen bis zur Ruhe – bilden die Basis der sieben Songs (plus zwei Instrumentals), meist eine ruhige, kontemplative Musik, die durch die Sufi- und Sarangimomente an Fahrt gewinnt. Wie gut die Ost-West-Kooperation gelingt, wird bei dem zentralen, fast zehnminütigen Robert-Burns-Song „Westlin Winds“ deutlich. Khan setzt die Anfangsakzente mit Sarangi und Gesang. Keine Ahnung, über was er teils furios singt, aber Yorkston greift den Gesang nahtlos auf, wenn auch um etliche Grade ruhiger, sodass der Song eine Einheit bildet. Burns hätte das gewiss gefallen, denn es passt zu seiner Überzeugung, dass alle Menschen Brüder werden sollten. Yorkston/Thorne/Khan setzen diese Idee eindrucksvoll musikalisch um. Mike Kamp
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MUT FÜR GEGENWEHR
| LES AMAZONES d’AFRIQUE Amazones Power (Real World)
Klassifizierungen wie „All-Female Supergroup“ werden dem 2014 ins Leben gerufenen Bandprojekt, das letztlich Stars wie Angélique Kidjo oder Mariam Doumbia zusammen mit weniger bekannten Künstlerinnen aus (West-)Afrika für ein Benefizalbum umsetzten, nicht gerecht. Es handelt sich eher um ein außergewöhnliches, offenes und dynamisches Musikkonzept, das vordringlich die Unterdrückung der Frauen in Afrika thematisieren und die Einforderung ihrer Rechte befördern will. Der Bandname ist mit Bedacht gewählt, lehnt sich an das legendäre, Anfang der 1960er-Jahre gegründete Frauenensemble Les Amazones de Guinée an. Nach dem bereits spannenden Debütalbum République Amazone 2017 trafen sich nunmehr Sängerinnen und Musikerinnen in neuer Zusammensetzung, Gründungsmitglieder wie z. B. Mamani Keita und Rokia Koné (beide aus Mali) mit Jungstars wie Fafa Ruffino (aus Benin), dank ihrer ghanaischen Großmutter (!) von Soul und Gospel inspiriert, oder Niariu, der aus Guinea stammenden jüngsten „Amazone“, die ihr Engagement auch beschreibt: „Wir können Feminismus nicht an Gender Equality in westlichen Ländern festmachen, wenn es noch zahlreiche Frauen gibt, die keinerlei Zugang zu ihren Grundrechten haben.“ Die Songtexte greifen nach wie vor tabuisierte Themen wie Zwangsheirat, Gewalt, sexuelle Übergriffe und natürlich auch Beschneidung auf, wollen Mut für Gegenwehr machen, propagieren Solidarität unter den Frauen, appellieren an „geläuterte“ Männer, sie zu unterstützen. Die meisten Stücke stammen von Koné und Keita. Die musikalische Basis bilden dabei Hip-Hop und traditionelle Stile, aufgepeppt mit passenden Gimmicks des irischen Electro-Pop-Produzenten Liam Farrell (aka Doctor L), bekannt geworden durch den von ihm mitentwickelten Congotronics Style. Aus dem Rahmen fällt da „Rebels“, ein von der Chaabi-Musik geprägtes Lied der algerischen Sängerin Nacera Ouali Mesbah. Der gemeinsam komponierte Schlusssong bringt es auf den Punkt: „Power“ ist der Schlüssel für die Rechte der Frauen! Roland Schmitt
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