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Ausgabe 1/2020


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Ein Sommeralbum für die einsame Insel

DEITSCH
Mittsommer Sessions
(Artes Records)


Ihr neuer Silberling ist ihr vierter unter dem Markennamen Deitsch, und der Titel hätte nicht besser gewählt sein können. Nicht nur, da er während der ersten Hitzewelle im Juni des vergangenen Jahres entstand, sondern weil selten ein Album dermaßen sommerlich klang, wie ein sonnendurchflutetes Tanzfest, von dem man wünscht, dass es niemals enden solle. Die letzte Produktion als Deitsch liegt ein Jahrzehnt zurück und hatte den Schwerpunkt auf deutschen Volksliedern, da es damals kaum Quellen für instrumentale Tanzmusik gab. Seit dieser Zeit sind einige alte Notenhandschriften mit Instrumentalmusik aus dem 18. und 19. Jh. wiederentdeckt worden, wie die Tanzsammlung Dahlhoff etwa – mit einem unschätzbaren Fundus an Melodien, eine  DEITSCH: Mittsommer Sessions schöner als die andere. Um das neue Material musikalisch adäquat umsetzen zu können, erweiterten Gudrun Walther (Gesang, Geige, Bratsche und diatonisches Akkordeon) und Jürgen Treyz (Gitarren, Satzgesang) ihr Duo zum Quartett. Mit Barbara Hintermeier von den More Maids (Geige, Bratsche, Satzgesang) sowie Steffen Gabriel (ansonsten bei Northern Lights, Trasnú und Nua) mit Holzquerflöte, Schäferpfeife und Satzgesang holten sie zwei Virtuosen in die Band, die sich schlicht als Glücksgriff erweisen. Neun geschmackvoll ausgewählte Stücke wurden von den Musikern mit viel Spontaneität entstaubt, arrangiert und mit überbordender Spielfreude im Aufnahmeraum live eingespielt. Vier Lieder sind zudem zu hören, altbekannte, ja, aber Deitsch wären nicht Deitsch, gäben sie nicht selbst nahezu totgespieltem Material wie „Der Winter ist vergangen“ neue Impulse, hier mit lupfigen Tempowechseln und einem kongenial von Treyz neu komponierten Zwischenspiel. Auch die „Dunkle Wolk“, Goethes „König in Thule“ und „Ade nun zur guten Nacht“ erhalten eine Frischzellenkur, die die Lieder in überraschenden klanglichen oder rhythmischen Arrangements erstrahlen lassen und von Gudrun Walther mit ihrer klaren Stimme ausdrucksstark in Szene gesetzt werden. Mittsommer Sessions ist ein Geniestreich und meine CD des Jahres 2019.
Ulrich Joosten

Stimmliche Strahlkraft der bosnischen Sevdah-Tradition

AMIRA MEDUNJANIN & TRONDHEIMSOLISTENE
Ascending
(Town Hill Colony)


Es sollte ursprünglich ein Rückblick auf ihre ersten fünfzehn Jahre als Musikerin werden. Doch in der Zusammenarbeit mit den herausragenden TrondheimSolistene ist der außergewöhnlichen Sängerin aus Bosnien-Herzegowina ein Meisterwerk gelungen, das wegweisend für ihre weitere Karriere sein wird. Seit 2003 beeindruckt die 47-Jährige auf jetzt sechs Studio- und zwei Livealben mit ihren Interpretationen der Sevdah-Musik. Dieses traditionelle Folkgenre aus Bosnien-Herzogowina ist heute auch noch in den übrigen Ländern Ex-Jugoslawiens verbreitet. Seine Wurzeln liegen in der arabischen und türkischen Kultur. Sevdah bedeutet dort „schwarze Galle“ oder auch „Melancholie“ und bezeichnet  AMIRA MEDUNJANIN & TRONDHEIMSOLISTENE: Ascending leidenschaftliche Lieder über Liebe, Sehnsucht, Freude und Schmerz. Ursprünglich sind es Stücke, die nur von Frauen gesungen wurden und kleine Ensembles mit Akkordeon, Violine, Nylongitarre, Oud, Kontrabass, Flöte oder Klarinette und Schnarrtrommel umfassen. Die traditionellen arabischen mikrotonalen Intervalle sind inzwischen Arrangements im chromatischen Tonsystem des Westens gewichen. Dennoch gelingt es gerade Amira Medunjanin, die Einzigartigkeit dieser Musikrichtung zu bewahren und mit dem preisgekrönten norwegischen Kammerstreichorchester sogar in ganz neue Richtungen weiterzuentwickeln. Mit den Norwegern bekommen die wunderschönen, melodischen Sevdah-Lieder eine deutlich klassischere Ausrichtung. Zuweilen erinnern die Arrangements an die Orchestrierung von Schwarzweißfilmen oder Chansons des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Daneben prägen auch Medunjanins langjährige musikalische Begleiter – wie der Kroate Ante Gelo auf der Gitarre oder der Serbe Bojan Zulfikarpašić am Klavier – das in Trondheim und den Abbey Road Studios eingespielte Album. Über allem thront jedoch die ergreifende Stimme der bosnischen Sängerin. Mit großer Strahlkraft präsentiert sie neue und bislang nur live gesungene traditionelle Stücke ihrer Kultur. Ein wahrer Hörgenuss.
Erik Prochnow

Ein Appell für Liebe, Hoffnung & Versöhnung

THE GOOD ONES
Rwanda, You Should Be Loved
(Anti), mit engl. Infos


Ist diese Musik, die drei Männer aus dem ländlich geprägten Umland der ruandischen Hauptstadt Kigali eingespielt haben, wirklich etwas Besonderes? Beim ersten Anhören meint man eher nicht. Unspektakuläre, gleichwohl anrührende und melodische „Folksongs“, basierend auf heimischen Musiktraditionen, ein bisschen an Blues und Bluegrass erinnernd, dazu Gitarrenklänge, die Assoziationen zum kenianischen Dry Guitar Style wecken. Und doch, diese im positiven Sinne schlichte, irgendwie „unschuldige“ Musik mit diesen brüchigen, aber empathischen Stimmen hat „etwas Besonderes“, wenn die Geschichte dahinter betrachtet wird, 25 Jahre nach dem Völkermord, dessen seelische Wunden noch nicht verheilt sind. 2009 bereisten Ian  THE GOOD ONES: Rwanda, You Should Be Loved Brennan, amerikanischer Produzent (u. a. Tinariwen) und Dozent für Gewaltprävention, und seine italienisch-ruandische Frau und Filmemacherin Marilena Delli das Heimatland von deren Mutter. Der Zufall wollte es, dass sie dem Bauern Adrien Kazigira begegneten, als Gitarrist, Sänger und Songschreiber Chef der Feierabendband The Good Ones, die meist bei Hochzeiten und Beerdigungen aufspielt. Brennan war begeistert: „Was die Kerle machen, ist edel und rar.“ Zwei von ihm unter einfachen Bedingungen produzierte Alben entstanden, Kigali Y Izahabu (2010) und Rwanda Is My Home (2015), die dem Quartett neben dem gefeierten Auftritt beim WOMAD-Festival 2014 vor allem im UK Lob und Anerkennung bescherten. Geändert hat sich an den schwierigen Lebensbedingungen für Adrien und seine Percussionisten Javon Mahoro und Janvier Havugimana scheinbar wenig. Dieses dritte Album knüpft nahtlos an die Vorgänger an. Übertragungen der in Kinyarwanda (wichtigste heimische Sprache) gesungenen Lieder gibt es leider keine. Den englischen Titeln zufolge geht es um Liebe, Versöhnung, Hoffnung. Wohl aus Marketinggründen fungieren einige namhafte US-Musiker als Special Guests (u. a. Wilco-Gitarrist Nels Cline). Gewidmet ist das Album Adriens dreizehnjähriger Tochter Marie-Claire, die an einem lebensbedrohlichen Tumor am rechten Auge leidet.
Roland Schmitt

Lieder von Leben, Tod und Befreiung

LAURIE ANDERSON, TENZIN CHOEGYAL, JESSE PARIS SMITH
Songs From The Bardo
(Smithsonian Folkways Recordings), mit ausführlichem engl. Booklet


Das Tibetische Totenbuch, das Bardo Thödröl („Befreiung durch Hören im Zwischenzustand“), ist eine der wichtigsten und interessantesten Schriften des tibetischen Buddhismus. Sie beschreibt die Wahrnehmungen der Seele nach dem Tod und erteilt klare Anweisungen, die es der Seele ermöglichen sollen, dieses Zwischenreich zwischen zwei Existenzen ohne Angst zu „durchqueren“. Im besten Fall erkennt die Seele diese zum Teil furchterregenden Gestalten, die sich ihr darbieten, als ihre eigenen Projektionen und gelangt so zur Befreiung. Laurie Anderson, bekannt für ihre avantgardistischen künstlerischen Arbeiten, liest Auszüge aus diesem Werk. So schwierig ein solches Unterfangen zu sein scheint, so  LAURIE ANDERSON, TENZIN CHOEGYAL, JESSE PARIS SMITH: Songs From The Bardo mühelos gelingt es der Künstlerin, dem Text einen unaufdringlich fließenden Rhythmus zu entlocken. Er klingt wie mit geschlossenen Augen gesprochen. Tenzin Choegyal, ein tibetischer Sänger und Multiinstrumentalist, floh als Kind nach der völkerrechtlich umstrittenen „Befreiung Tibets“ durch die chinesische Volksarmee im Jahr 1950 ins indische Exil. In seinen Gesängen ersteht das tibetische Hochland auf, wie es in seinen Erinnerungen und Träumen weiterlebt. Klangschalen, Flöten und Saiteninstrumente erschaffen eine unwirkliche Atmosphäre, die dem gesprochenen Text eine enorm suggestive Kraft verleiht. Choegyal trug schon lange den Wunsch in sich, dem Herzstück der tibetisch-buddhistischen Literatur eine zeitgemäße künstlerische Ausgestaltung zu geben. Als er 2014 in New York auf die amerikanische Komponistin Jesse Paris Smith traf, nahm die Vision rasch Gestalt an, und im Trio mit Laurie Anderson war man sich bereits beim ersten Treffen darüber klar, dass hier die „richtigen Seelen“ in Resonanz gingen. Wie eine große, gänzlich unvorhersehbare Reise offenbart sich dieses Album dem aufmerksamen Hörer. Folklore, abstrakte Klänge und Text bilden ein faszinierendes unlösbares Geflecht. Aus dieser meditativen Hörerfahrung geht man auch als Nichtbuddhist ein wenig furchtloser hervor.
Rolf Beydemüller