Rezensionen der Ausgabe 4/2019
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MARC AMACHER Roadhouse (Jazzhaus Records)
Das klingt nach einem Riesenspaß: In Ermangelung eines gemeinsamen Termins in einem „regulären“ Tonstudio trafen sich vier Musiker im Geburtsort von Marc Amacher im Berner Oberland. Kurzerhand wurde in einem zurzeit leerstehenden Gasthof eine Aufnahmemöglichkeit geschaffen, also aufs Heftigste improvisiert. Was für ein Glücksfall, möchte man sagen, denn was hier an Spielfreude hörbar wird, findet man wirklich nur sehr selten. Vor allem der Blues lebt von solchen Umständen, erzählt in seinen Texten davon und straft seine als ach so einfach dargestellte Metrik, Spiel- und Gesangsstruktur immer wieder aufs Neue der Lüge. Neben technischer Finesse gehört nämlich immer eine gehörige Portion Verinnerlichung, Inbrunst, ehrlicher Hingabe dazu – erst dann wird aus einem Song ein guter Bluessong. Das hört und spürt man als Zuhörer. In diesem Sinne ist das Album der vier Musiker Marc Amacher (Gesang, Gitarre), Philipp „Phipu“ Gerber (Gitarre, Gesang), Jürg „Jüre“ Schmidhauser (Bass) und Christoph „Chrigu“ Berger (Schlagzeug) eine richtig gute Blues(rock)platte. Improvisiert, nicht bis ins Letzte technisch ausgefeilt, roh, ausdrucksstark, ehrlich, handgemacht – und für den Zuhörer ein Riesenspaß! Achim Hennes
| PAUL ANDERSON Beauties Of The North (Fingal Records), mit engl. Infos
Zwölf Jahre Entstehungsgeschichte hat dieses Album auf dem Buckel, und Paul Anderson lässt uns im Beiheft an dieser ungeplanten Story ebenso teilhaben, wie er die 23 Melodien ausführlich erläutert. Hier geht es um schottische Airs und Laments, langsame Stücke also, die es einem versierten Geiger wie Anderson ermöglichen, alle Verzierungen und Klangfacetten seines Instruments auszuloten. Genau das macht er auch eine gute Stunde lang, und zwar mit beeindruckenden Resultaten. Fünf der Melodien stammen aus seiner Feder, der Rest von Klassikern wie Niel Gow oder James Scott Skinner. Ab und zu erklingen Gitarre (Tony McManus!) oder Piano als Begleitung, zum Schluss sogar das legendäre Combolin der Corries, aber bis auf diese eine Ausnahme bleibt die Begleitung dort, wo sie hingehört, im Hintergrund. Es ist Paul Andersons elegantes, fast klassisch anmutendes Fiddlespiel, das glänzt – und nicht zu knapp. Mike Kamp
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RACHELE ANDRIOLI & ROCCO NIGRO Maletiempu (Dodicilune Records), mit Texten
Folkbands aus Salento, dem Stiefelabsatz Italiens, sorgen seit Jahren für percussiongeladene, spannungsreiche Neuerscheinungen. Die Wurzeln der apulischen Volksmusik (obschon einige Stücke aus Kampanien, Korsika und Sizilien stammen) spürt man in den Liedern der Sängerin Rachele Andrioli und des Akkordeonisten Rocco Nigro. Doch die beiden spielen hier nicht zum Tanz auf. Im Vordergrund stehen die Lieder, manche traditioneller Herkunft, andere aus der Feder des Duos. Das Maletiempu („Unwetter“) bringt Stürme übers Land, zwingt die Bewohner zum Auswandern, lässt Liebesbeziehungen zerbrechen, und dann muss auch noch das Kleine in den Schlaf gewiegt werden. Rachele Andrioli singt diese Lieder mit einer unglaublich starken, einnehmenden Stimme. Ihr glaubt man jede Gefühlsregung von Freud und Leid aufs Wort. Wer Sängerinnen wie Elena Ledda schätzt, wird hier fündig. Rocco Nigro tritt mit seinem Akkordeon in einen Dialog mit dem Gesang ˗ eloquent, fordernd, auf den Punkt gebracht. Die beiden sorgen für einen Orkan an Sinnlichkeit, manchmal unterstützt von Musikerkollegen an Saiteninstrumenten und Percussion. Intensität muss nicht laut sein. Martin Steiner
| ANDRIES BOONE C.O.L.O.R.S (Trad Records)
Wer denkt sich eigentlich diese Namen für Autolackierungen aus? Calypso-Rot etwa oder Fjord-Grau? Es sind Kreative wie der Belgier Peter Van Eyck. Von dessen Farbassoziationen ließ sich Mandolinenspieler und Landsmann Andries Boone inspirieren. Folglich tragen die Stücke auf seinem ersten Soloalbum Bezeichnungen wie „Whisper Green“, „Queeny Blue“ und „Werewolf Grey“. Zur musikalischen Umsetzung der Farbenträume bietet Boone eine Armada von Instrumentalisten auf – um einen Breitwandsound zu kreieren, der großer Filmmusik zur Ehre gereichen würde. Entsprechend klingen die Kompositionen auch, wenn von Querflöte über Cello bis Uilleann Pipes ein satt besetztes Ensemble ertönt. Die Mandoline lässt sich dazwischen oft nur erahnen, und wenn, dann umspielt der Belgier die sich ums Instrument rankenden Klischees und führt es auf andere Seiten. In „Cadillac Purple“ etwa fungiert die Mando als funkiger Rhythmusgeber. Wenn allerdings Fender Rhodes, Vibrafon und Bläsersatz dominieren, gehen die Erinnerungen zurück zu üppigen Orchestrierungen von Frühsiebziger-Filmen, und Lalo Schifrin lässt grüßen. Eine vor allem jazzige Instrumentalplatte mit manchem Glanzlicht und wenig Langeweile. Volker Dick
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DANÇAS OCULTAS Dentro Desse Mar (Galileo MC), mit Texten
Die vier Männer mit ihren vier Konzertinas, dem diatonischen Akkordeon, gehören seit ihrer Gründung im Jahre 1989 zu den innovativsten Formationen Portugals. Dieses Mal stechen sie in See. Brasilien winkt, seit jeher auch in musikalischer Hinsicht die Traumdestination vieler Portugiesen. Dort lädt der Cellist Jaques Morelenbaum das Quartett in sein Studio in Rio ein. Um es vorwegzunehmen: Die Annäherung ist gelungen. In manchen Stücken sorgt der Starproduzent mit seinem Cello für einen warmen Grundton. Die drei Gastsängerinnen sorgen für brasilianisches Flair – Zélia Duncan mit ihrer tiefen, rauen Stimme und Dora Morelenbaum, die Tochter des Cellisten, dazu die portugiesische Fadosängerin Carminho, die schon mehrfach bewiesen hat, wie sehr sie sich in der Musik Brasiliens zu Hause fühlt. Weitere Akzente schaffen auf sieben von elf Stücken gefühlvoll eingesetzte Percussioninstrumente, hie und da eine Gitarre, Mandoline oder das Cavaquinho. Und die Musik? Diese gleitet leicht und doch mit Tiefgang zwischen Brasilien und Portugal hin und her. Lieblingsstück: das traumwandlerische „Oniris“ mit den vier Konzertinas. Ein rundum stimmiges, inspiriertes Werk. Martin Steiner
| FAUSTUS Cotton Lords (EP; Westpark), mit engl. Infos u. Texten
Der mitreißende „Bloke Folk“ der drei Herren aus England hat ihnen auch hierzulande den Preis der deutschen Schallplattenkritik beschert, aber für ihr neues Werk beschreiten sie einen ganz anderen Pfad. „Lancaster Cotton Famine“ ist ein historisches, sperriges Thema. Als Mitte des 19. Jahrhunderts der amerikanische Bürgerkrieg tobte, blieben die Exporte amerikanischer Baumwolle nach England aus und die großen Spinnereien dort entließen ihr Personal. Die Armut war riesig und entsprechend verzweifelte Gedichte wurden geschrieben und publiziert. Die hat der Wissenschaftler Dr. Simon Rennie gesammelt und an Faustus weitergeleitet, die wiederum sechs dieser Gedichte vertont haben (eines ist als Video auf der CD). Das geschieht in der für diese drei erfahrenen Musiker üblichen Qualität mit Bouzouki, Gitarre, Melodeon und Violine, besonders aber mit dem bestechenden dreistimmigen Gesang. Für das historische Verständnis sorgt das vorbildliche Beiheft mit hilfreichen Erläuterungen von Dr. Rennie. Trotz dieser hohen Qualität wird man jedoch den Eindruck nicht so ganz los, einer fundierten Geschichtsstunde in 22 Minuten beizuwohnen. Ist definitiv mal was anderes. Mike Kamp
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GLEN HANSARD This Wild Willing (Anti-/Indigo), mit engl. Texten u. Infos
„I’ll Be You, Be Me“ eröffnet den genialen Wurf mit John Deacons Bassline des Queen-Klassikers „Cool Cat“, der Bass pulst dämmernd über dolbyfreiem Rauschen. Eine Sphäre darüber kreist Hansards Stimme, wispernd, hauchend, hypnotisierend. Erstaunlich wie ekstatisch das Crescendo in einen Chorgesang mündet, der an den „Lady-In-Black“-Refrain erinnert. In „Don’t Settle“ glaubt man Lennon’s „Imagine“-Klavier zu hören, Reminiszenzen, die bei Hansard ein Zuhause haben. Doch This Wild Willing schenkt dem Zuhörer nichts von dem, was man erwarten könnte. Im Sommer 2018 geht Hansard nach Paris, lässt die Zügel los, öffnet sich Begegnungen und Zufällen, folgt frei und losgelöst dem, was sein Herz bewegt und kreiert mit einer Schar exzellenter Musiker ein wundervoll betörendes Album, opulent, kraftvoll, experimentierfreudig. Hemingways Erinnerungen in Paris – Ein Fest fürs Leben werden Hansard zum Reiseführer auf abenteuerlichen Pfaden. Alles fügt sich ohne Plan. Große Songs zwischen iranischem Saitenspiel, Art Rock und Elektrosounds. Hansard evoziert etwas einzigartig Eigenartiges und feiert, dem Flow folgend, mit jedem Ton das Leben. Was zu Beginn schlicht rauscht, ist am Ende schlichtweg berauschend! Stefan Sell
| CLAIRE HASTINGS Those Who Roam (Luckenbooth Records), mit engl. Infos u. Texten
Welche Überraschung! Auf dem Cover die eigentlich ziemlich bodenständige Claire Hastings als elegante Lady im Stil der Dreißigerjahre (vermutlich) auf dem Bahnhof von Edinburgh. Aber keine Sorge, was immer hinter dieser netten Inszenierung steckt, musikalisch bleibt sie sich auf ihren Solozweitling treu: sieben traditionelle Lieder, zwei Eigenkompositionen plus ein Werk des amerikanischen Singer/Songwriters David Alvin. Mit Jenn Butterworth (Gitarre), Laura Wilkie (Fiddle), Tom Gibbs (Piano) und Andrew Waite (Akkordeon) hat Hastings ein Begleitquartett, das in der Lage ist, den traditionellen Melodien den nötigen Stempel des 21. Jahrhunderts aufzudrücken. Wenn es an diesem rundum erfreulichen Album den Ansatz einer Kritik geben könnte, dann den, dass ich mir von ihr mehr zeitgenössisch relevante Songs gewünscht hätte. Aber vielleicht ist dieser Wunsch auch unfair, denn das Motto der CD lautet klar und deutlich: „Schart euch um mich, ich hab’ Geschichten zu erzählen.“ Und das tut Claire Hastings mit ihrem gewinnenden Gesang. Mike Kamp
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KATE RUSBY Philosophers, Poets & Kings (Pure Records), mit engl. Infos u. Texten
Kate Rusby ist in Großbritannien ein Star und weit über die Folkszene hinaus bekannt. Das hat Gründe, die auch auf ihrem aktuellen Album Philosophers, Poets & Kings wiederzufinden sind. Sie hat eine ausgesprochen sympathische, fast einschmeichelnde Stimme, ihre Songs sind wohlklingend arrangiert, ohne zu leichtgewichtig und abgehoben von ihren musikalischen Wurzeln zu klingen, und ihre zahlreichen Eigenkompositionen enthalten in Struktur und Melodie weit mehr als nur eine Referenz zur Folkmusik. Vor allem jedoch sind ihre Lieder immer tröstlich, und das ist in dieser unwirtlichen und unsicheren Welt immer willkommen. Ganz gleich, ob es bei ihren eigenen Songs wie „Until Morning“ oder „As The Lights Go Out“ um das ganz persönliche Trösten geht oder in „Halt The Wagons“ um ein historisches Bergwerksdesaster von 1838 mit toten Kindern von sieben bis siebzehn Jahren, wo Rusby die Eltern tröstet – nie ist textliches und musikalisches Mitgefühl weit. Und wenn sie dann mit dem Song „Jenny“ (einmal Original, einmal Remix) chartverdächtig einen siegreichen Außenseiter feiert, dann fühlt sich das nur gerecht an. Auch ihr siebzehntes Studioalbum ist ein Erfolg. Schade nur, dass Deutschland nicht auf ihrem Terminkalender steht. Mike Kamp
| SIGRUN LOE SPARBOE Labyrint (Grappa Musikkforlag GRCD4582), mit norw. Texten
Die norwegische Liedermacherin Sigrun Loe Sparboe ist hierzulande noch kaum bekannt – anders übrigens als ihre berühmte Tante Kirsti Sparboe, der wir so unsterbliche Schlager wie „Ein Student aus Uppsala“ verdanken. Es wäre natürlich gemein, jetzt bei der Nichte zu sehr nach dem Genie der Tante zu suchen, aber zumindest stimmlich kann sie es mit Kirsti durchaus aufnehmen. Sie hat alle Lieder auf diesem Album – ihrem dritten – selbst geschrieben und für die Einspielung etliche bekannte Kollegen ins Studio gebeten. Zu erwähnen sind da vor allem Sunniva Lotte Wormsen mit ihrer Harfe und Lise Volsdal an Bratsche und Geige. Sigrun Loe Sparboe stammt aus dem nordnorwegischen Harstad, und ihren norwegischen Landsleuten aus dem hohen Norden ist ein Lied gewidmet („Nordfolket“). Die wilde Natur bildet den Hintergrund zu dem, was die Lieder erzählen, und auch ihre Sprache zeigt die deutliche Prägung durch die dort oben übliche Aussprache. Sie bevorzugt leise Töne, oft auch langsamere Melodien, aber sie kann auch temperamentvoll. Es sind Texte, die zum Nachdenken anregen oder auch zur unbedingten Zustimmung, z. B. ihre Ode an den Herbst, ihre Lieblingsjahreszeit. Eine wunderschön melodische CD und auch für Menschen ohne Norwegisch-Kenntnisse sicher ein Genuss. Gabriele Haefs
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SEAN TAYLOR The Path Into Blue (Eigenverlag)
Sean Taylor sieht seine Heimat Großbritannien schwer von den Folgen der Regierungszeit Maggie Thatchers geprägt. Dies und die Lage im Allgemeinen sind Themen der zwölf Songs auf The Path Into Blue, bei denen er Folk mit einer großen Prise Soul vermischt. Das Album wurde in den USA unter der Oberaufsicht von Produzentenveteran Mark Hallman eingespielt, der auch an mehreren Instrumenten zu hören ist. Trotz der offensichtlichen Wut („Is the money you make / Worth the lies you take?“), in seinen Texten klingt die Musik weich und zart, was heißt: Zwar ist Taylor wütend über den Zustand der Welt, doch nicht so verzweifelt, um sie zum Teufel zu wünschen. Und das macht seine Songs wiederum sehr hörenswert. Michael Freerix
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