Rezensionen der Ausgabe 4/2018
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CINESOUNDS
Die Filmkolumne von Michael Freerix
Das Vermächtnis des Roscoe Holcomb
Wenn der Fotograf John Cohen 1959 nicht aus reiner Neugier und mit seinem klapprigen Auto in die Appalachen gefahren wäre, um dort unbekannte Folkmusiker aufzutun, wäre Roscoe Holcomb wohl niemals entdeckt worden. Roscoe Holcomb war Bergarbeiter und lebte in dem kleinen Dorf Daisy in Kentucky, abseits der Hauptstraße. Er hatte seine Arbeit im Schacht nach einem schweren Unfall aufgeben müssen und verdingte sich nun gelegentlich als Straßenbauer. Hauptsächlich betrieb er Landwirtschaft und kümmerte sich um seine Kinder. Als John Cohen auf ihn traf, war er erst Mitte Vierzig und wirkte bereits
JOHN COHEN The High & Lonesome Sound – The Legacy of Roscoe Holcomb Göttingen: Steidl-Verlag, 2012
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| wie ein alter Mann. Abends, wenn die Arbeit erledigt war, saß Holcomb auf der Veranda vor seinem einfachen Holzhaus und spielte Banjo. Gelegentlich schrieb er auch eigene Songs, in denen er von seinem Leben erzählte, oder er sang die Lieder des New Baptist Songbook leise vor sich hin. Cohen war tief beeindruckt von dieser Musik und machte die ersten Fotos von ihm. Einige Monate später besuchte er Holcomb erneut und hatte dieses Mal ein tragbares Tonbandgerät dabei, um seine Musik aufzunehmen. Zurück in New York konnte er Moses Ash, Labelboss von Folkways Records, überzeugen, diese Aufnahmen zu veröffentlichen. Bob Dylan war von diesem Album zutiefst fasziniert. Er bescheinigte Holcombs Gesang „a certain untamed sense of control“.
Cohen besuchte Holcombs Familie immer wieder und besorgte dem Folksänger Auftrittsmöglichkeiten. Neben zahllosen Fotografien der Menschen in Daisy drehte er dort 1962 den halbstündigen Film The High Lonesome Sound. Fantastisch montiert ist dieser Streifen ein überaus seltenes Dokument der Bergarbeiterkultur in den Appalachen dieser Zeit. Doch hat Roscoe Holcomb nach seiner „Entdeckung“ nur eine leidliche Karriere als Musiker erleben können. Zwar machten ihn Film und Album überaus bekannt und er konnte auf vielen Folkfestivals spielen. So kam er 1966 für eine Konzerttour sogar nach Westdeutschland, wo er neben den Stanley Brothers, den Clinch Mountain Boys oder Cousin Emmy in mehreren Städten auftreten konnte. Doch brachte ihm das Geld, das er durch seine Musik verdiente, kein Glück: Seine kleine Versehrtenrente, die er seit seinem Unfall bezog, wurde ihm wegen dieser Nebeneinkünfte gestrichen. Ohne Rücksicht auf seine schwache Gesundheit nahm er deshalb jeden Gig an, der ihm angeboten wurde. Tatsächlich brachte dann ein Auftritt, den er 1980 in New York hatte, das Ende. Holcomb hatte sein Konzert wegen eines Hustenanfalls abbrechen müssen. Vollkommen entkräftet trat er am gleichen Abend mitten im Winter in einem kaum beheizten Bus seine Rückreise nach Kentucky an. Dort angekommen musste er mit einer schweren Lungenentzündung gleich ins Krankenhaus, in dem er 1981 mit 68 Jahren starb.
Das Medienpaket bestehend aus einer DVD, Holcombs erstem Album und einem Buch mit zahlreichen Fotos von der Familie Holcomb und den Menschen in Daisy sind im Steidl-Verlag erschienen. Ein überwältigendes Dokument einer fremden Zeit.
... mehr im Heft. |
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