Rezensionen der Ausgabe 4/2016
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SEMER ENSEMBLE Rescued Treasure piranha.de/piranha/semer_ensemble ((Piranha 2959/Indigo) Promo-CD, 12 Tracks, 60:56
Lieder der Liebe und Eifersucht, über Krieg und die Thorah, Sozialismus und Tanz – es gibt kaum ein Thema, das der aus Wilna stammende Hirsch Lewin (1892–1958) nicht musikalisch in seinem Musiklabel Semer (hebr. für „Lied“) einbaute, das er 1932 in Berlin in die Welt rief. Sechs Jahre produzierte Lewin fieberhaft Aufnahme um Aufnahme, bis die Nazihorden am 9. November 1938 auch seine Wirkstätte stürmten und sämtliche Schallplatten und Matrizen zerstörten. Im Auftrag des Jüdischen Museum Berlin stellte Alan Bern (Brave Old World, Piano, Akkordeon) 2012 ein Ensemble profiliertester Musiker zusammen: Paul Brody (Trompete), Daniel Kahn (Akkordeon), Mark Kovnatskiy (Geige) und Martin Lillich (Basello) sowie die Vokalisten Sasha Lurje, Fabian Schnedler und Lorin Sklamberg – welcher Freund der jüdischen Musik kennt nicht diese Namen? Über drei Jahre entwickelte das Semer Ensemble sein Programm auf europaweiten Tourneen, bis sie sich im November 2015 im Studio des Gorki-Theaters in Berlin trafen, um vor Publikum live ein fantastisches Album einzuspielen – Tanz, Trauer und Freude, auf Deutsch, Jiddisch und Hebräisch. Zu schade, dass einer Promo-CD kein Booklet beigelegt wird, aus dem ggf. weitere Infos und Texte zu den einzelnen Liedern ersichtlich gewesen wären. Matti Goldschmidt
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BORRINA MAPAKA The Forest Man borrinamapaka.com (Oza OZASE14/Galileo MC) 13 Tracks, 46:03
Nach einer ersten Karriere als Tänzer und Choreograf hat sich der gebürtige Kongolese Borrina Mapaka, 42, auch als Musiker und Sänger in der internationalen afrikanischen Musik einen guten Namen gemacht. 1997 von Brazzaville nach Paris gezogen, überführt er seine musikalischen Wurzeln mit einem tradi-modernen Hybrid tendenziell recht forsch in die Zukunft. Auf The Forest Man verzichtet er dagegen weitgehend auf jegliche Annäherungen an die internationalen Mainstream-Hörgewohnheiten, namentlich das urbi wie orbi dominierende, immer gleiche angloamerikanische Funky-Groove-Fundament. Aus gutem Grund: Das Album ist als Appell konzipiert, die Rodung der Regenwälder im Kongobecken und anderswo zu stoppen. Da darf es in der Tat auch nach Regenwaldgesängen klingen – Pygmäengesängen, wie jedenfalls das Booklet vermeldet. Und das tut es, wenn auch sicherlich immer noch behutsam für den westlichen Markt geglättet, betörend mehrstimmig gesungen, mitreißend polyrhythmisch und, durch den nahezu vollständigen Verzicht auf fette Bässe und Druck aus dem Schlagzeug, so federleicht und transparent wie die Kalimba, die das Klangbild immer wieder dominiert. Klarer, stetig tröpfelnder Regen. Erfrischend! Christian Beck
| OGOYA NENGO AND THE DODO WOMEN’S GROUP On Mande morrmusic.com (TAL 01/Morr Music) 13 Tracks, 39:44
Als eine Folge der schon früh einsetzenden Globalisierung können wir heute immer wieder unterschiedlichste Musiker aus den entlegensten Winkeln dieser Erde zu uns ins Wohnzimmer holen. Warum wir das auch wirklich machen sollten, erschließt sich gut am Beispiel dieses Albums. Durch die hervorragenden Aufnahmen zweier deutscher Musiker im Dezember letzten Jahres im Westen Kenias erfahren wir hier mehr über das Leben in einem Dorf. Die Lieder, in der Muttersprache der Sängerin, mit zum größten Teil banalen Texten, dringen, begleitet von archaischen Instrumenten, schnörkellos und auf das Wesentliche reduziert an unser Ohr. In der Einfachheit schwingen Respekt und Demut mit. Nichts klingt virtuos in dem Sinn, wie wir diesen Begriff verwenden. Trotzdem versteht man sehr gut, warum Anastasia Oluoch, wie die Sängerin eigentlich heißt, schon früh den Namen „Ogoya Nengo“ bekam, was übersetzt so viel wie, „die teuerste und kostbarste Sängerin der Region“ bedeutet. Die Aufnahmen entstanden in ihrer Lehmhütte in Rang’ala Village, sodass, wenn wir die Augen schließen, wir uns in ihr Wohnzimmer nach Kenia einladen lassen können, ohne eine halbe Weltreise zu unternehmen. Christoph Schumacher
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CHRISTINE SALEM Larg Pa Lo Kor christinesalem.com (Blue Fanal, 24706/Brokensilence) 13 Tracks, 51:26 , kreol. Texte
Dieses Album kann eigentlich niemanden kalt lassen. Das liegt einerseits an der außergewöhnlichen, tiefen, souligen und bisweilen hypnotischen Stimme Christine Salems, in der etwas von Nina Simone anklingt. Andererseits zieht den Hörer der eindringliche Rhythmus in den Bann. Hier kommt eine unglaubliche Kraft zum Ausdruck, die das Erbe von Salems kreolischer Herkunft ist. Die vierundvierzigjährige Sängerin stammt von der Insel La Réunion im Indischen Ozean und schickt sich an, der erste internationale weibliche Star ihrer Kultur zu werden. Noch vor fünfunddreißig Jahren wäre die charismatische Musikerin verhaftet worden. Denn sie singt Maloya, den in Afrika verwurzelten Blues, den die ehemaligen kreolischen Sklaven auf den Zuckerplantagen der Insel entwickelten. Salem demonstriert eindrücklich, wie lebendig diese Tradition ist. Die dreizehn meist in kreolischer Sprache interpretierten Stücke hat sie nicht nur selbst geschrieben, sie verwebt die Geschichten über ihre Reisen und Begegnungen auch mit einer Mischung aus ausgefeilten afrikanischen Rhythmen, groovigen Gitarrenklängen und intensivem Harmoniegesang. Eine Stimme, die unbedingt live in Deutschland gehört werden sollte. Erik Prochnow
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HACKENSAW BOYS Charismo hackensawboys.com (Free Dirt Records DIRT-CD-0078) 11 Tracks, 37:33 , mit engl. Texten
Die Bandfotos lassen raue, üble Burschen erwarten. Doch der Opener „Don’t Bet Against Me“ beginnt mit zierlicher Mandoline. Schnell wird klar, dass es sich hier nicht um einen Haufen von Typen handelt, die mal eben den Dicken markieren wollen. Seit siebzehn Jahren besteht die Band bereits, und zahlreiche Umbesetzungen später glänzt sie mit diesem Album, das Bluegrass mit allerhand anderem mixt und bei aller Tradition voll heutiger Energie steckt. Unter den Tracks sind Stücke, die es verdient hätten, zu neuen Klassikern zu werden, wie das mit Cajungeist getränkte „Flora“ oder das jazzig angehauchte „Happy For Us In The Down“. Alle Songs stammen von den langjährigen Mitgliedern David Sickmen (Gitarre) and Ferd Moyse (Fiddle, Bass). Produziert hat Larry Campbell, Veteran der Musikszene rund um Woodstock und ehemals Mitmusiker bei Leuten wie Bob Dylan und Levon Helm. Was die bärtige Truppe aus Virginia mit ihm zusammen auf die Beine gestellt hat, kann Rockhörern wie Bluegrassern gefallen – zumal niemand auf die genretypische Virtuosität verzichten muss. Exotisch lediglich das „Charismo“ genannte Percussioninstrument, ein Sammelsurium metallischer Gegenstände. Vorm Schrott gerettet, uns zur Freude. Volker Dick
| SHARI PUORTO My Obsession sharipuorto.com (Little Lightning Productions/CD Baby) 12 Tracks, 44:36 , mit engl. Infos
Blues und extraordinäre High Heels müssen kein Widerspruch sein. Das zeigt die hübsche Bluesrocksängerin und Komponistin Shari Puorto aus Los Angeles. Sie hat es drauf, ihr Publikum zu fesseln. Ihr Stil lehnt sich an Bonnie Raitt und Janis Joplin an. Sie hat Dynamik in der Stimme und tritt seit den späten Neunzigerjahren in vielen Formationen auf. Eine ganze Armada an Musikern ist auf ihrer vierten Studioplatte vertreten. Als Schlagzeuger und Produzent macht Grammy-Gewinner Tony Braunagel mit. Ihr ganzes Können stellt Puorto mit dem einzigen Cover auf dieser Platte – „When A Man Loves A Woman“ – unter Beweis. Wir warten gespannt auf ihre Auftritte in Europa. Annie Sziegoleit
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TONY JOE WHITE Rain Crow tonyjoewhite.com (Yep Roc/H’art) Promo-CD, 9 Tracks, 36:54
Swamp Rock – in diesem Falle eher Swamp Blues. Musik aus Louisiana, aus einer Gegend, in der die Seitenarme des Mississippi eine verwunschen wirkende Sumpflandschaft geformt haben. Vierzig Grad Hitze, die Luftfeuchtigkeit bei neunzig Prozent. Süßer Duft von Magnolie und Bougainvillea, vermischt mit der leichten Fäulnis stehenden Gewässers. Das von den Bäumen hängende spanische Moos klatscht einem ins Gesicht. Einer indianischen Legende nach handelt es sich um das Haar einer Prinzessin, die am Tag ihrer Hochzeit ermordet wurde. Der trauernde Bräutigam schnitt ihr das Haar ab und hängte es in einen Baum, von wo aus es über das Land verteilt wurde. Von hier also stammt die Musik, stammen die Geschichten Tony Joe Whites. Eine eher sprechende als singende Stimme, manche Silben verschluckt und undeutlich. Die Slidegitarre nicht silbern klingend, sondern verzerrt und übersteuert. Bass und Schlagzeug immer irgendwie zu spät und leicht aus dem Takt geraten, auch die gelegentlich eingeworfenen Harptöne wirken verloren. Und alles ist einfach stimmig, wunderbar, erschreckend, fügt sich im rechten Moment zu Klang gewordener Kunst, die gleichzeitig vor Hitze lodert und das Blut in den Adern zum Frieren bringt. Achim Hennes
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HAMILTON DE HOLANDA Samba De Chico hamiltondeholanda.com (MPS 0211077MS1/Edel) 15 Tracks, 53:33
Nächstes Jahr können hundert Jahre Samba gefeiert werden. 1917 erschien mit „Pelo Telefone“ der Banda Odeon der erste Samba auf Schallplatte. Im Olympiajahr feiern die Brasilianer dieses Jubiläum schon jetzt. So auch Bandolim-Superstar Hamilton de Holanda. Er widmet sein neues Album den frühen Sambas Chico Buarque de Holandas. Klar, wenn man schon mal den gleichen Namen hat. Hamilton de Holanda schwört hier zwar nicht seiner Neigung zum Jazz ab, aber Melodie und Rhythmus stehen im Mittelpunkt, ja, die Stücke sind auch gut tanzbar. Für Jazzfans legt er zudem manchmal ein atemberaubendes Tempo oder ein Unisonospiel mit dem italienischen Pianisten Stefano Bollani vor. Für Momente der Beruhigung sorgen die gesungen Sambas mit der spanischen Sängerin Silvia Perez Cruz. Und der Komponist Chico Buarque hat auch zwei Gastauftritte als Sänger. Mit diesem Album wird er auch als einer der großen Sambamusiker gewürdigt. Für die Fans der zehnsaitigen brasilianischen Mandoline ist das Spiel de Holandas sowieso unüberbietbar, und unter seinen inzwischen neunundzwanzig Alben ist Samba De Chico garantiert eines seiner besten. Hans-Jürgen Lenhart
| M.A.K.U. SOUNDSYSTEM Mezcla makusoundsystem.com (Glitterbeat/Indigo) 9 Tracks, 43:14 , mit engl. Infos
Kein Soundsystem, also ein DJ-Elektronik-Projekt, ist hier am Werk, sondern die Crew von acht passablen, teils singenden Spielern diverser akustischer und elektrifizierter Instrumente. Das Gros sind Kolumbianer, die 2010 in New York zusammenfanden und seither schon vier Alben veröffentlichten. Der titelgebende Mix des neuen ist musikalisch wie inhaltlich Programm: Afrobeat trifft auf verschiedenste afrokolumbianische Stile sowie auf Jazz, Punk oder Hip-Hop. Uralte und neue Verbindungen beider Amerikas zum Mutterkontinent werden auf gekonnte und zum Tanzen einladende Weise hergestellt. Die gute Laune siedelt jedoch auch stets nah am politischen Bewusstsein, das in den farbenprächtigen, temperamentvollen Songs der US-Immigranten nicht zu überhören ist. Daher wundert es bzw. ist es bedauerlich, dass man der schön gestalteten, mit wenigen Infos versehenen CD nicht noch ein kleines Booklet mit den Liedtexten beigefügt hat. Dort hätte dann zum Beispiel auch stehen können, dass „M.A.K.U.“ auf eine der vielen indigenen Gruppen Kolumbiens und „Soundsystem“ auf die sechzig Jahre alte, heute noch bzw. wieder populäre Tradition ambulanter Diskotheken, sogenannter picós, an Kolumbiens Karibikküste anspielt. Katrin Wilke
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ALFREDO RODRIGUEZ Tocororo alfredomusic.com (Mack Avenue MAC 1109/In-akustik) 13 Tracks, 47:35
Mit präpariertem Klavier und ohne Schlagzeug steigt der kubanische Pianist Alfredo Rodriguez ins Album ein, um dann über die kubanische Melodie loszujazzen und danach wieder in eine gewisse klassische Romantik zu verfallen. Eine Vorkost dessen, was das Konzept des Albums ausmacht: Latin Jazz mit stilistischem Crossover und experimentellem Einschlag. Außerdem liebt Rodriguez dynamisch unterschiedliche Breaks. Klassik trifft hier auf Flamenco oder Jazz, beschwörend klingende Chöre auf Klavierimprovisationen. Auch ein Calypso schleicht sich ein, trotz dessen süßlicher Melodik das beste Stück, wegen einer überzeugenden Improvisation darüber. Dann plötzlich eine Verbindung von Gesang und Trompetensolo mit indischem Einschlag. Oder ein Tango Nuevo. Dies alles klingt nach der stilübergreifenden Spielfreude, die man gerade wieder in letzter Zeit von kubanischen Musikern her kennt. Rodriguez variiert seine Kompositionen nicht allein jazzmäßig, sondern stilistisch, atmosphärisch und tempomäßig und geht damit einen eigenen Weg, in dem Jazz nur ein Teil des Ganzen ist. Hier sollen die Grenzen zu anderen Stilen und Einflüssen verschwinden. Anderen würden diese Ansätze für zehn Alben reichen. Hans-Jürgen Lenhart
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