Rezensionen der Ausgabe 4/2016
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ANNEN MAY KANTEREIT Alles nix Konkretes annenmaykantereit.com (Vertigo/Universal) 12 Tracks, 40:29 , mit dt. Texten u. Infos
Annen May Kantereit sind schon seit einer Weile keine Unbekannten mehr. Aber das heißt natürlich nix. Heino ist ja auch kein Unbekannter. Nee, aber die Jungs sind richtig gut. Findet auch mein Sohn. Und der weiß da was von. Ohne große Faxen: Gitarre, Bass, Schlagzeug und gelegentlich Klavier – fertig. Der Name der Band setzt sich aus den Nachnamen von dreien der Musiker zusammen. Christopher Annen (E-Gitarre), Henning May (Piano, Gesang) und Severin Kantereit (Trommeln). Warum der Bassmann Malte Huck nicht im Bandnamen auftaucht? Keine Ahnung. Vielleicht kam er später dazu oder mit vier Nachnamen wäre es zu unübersichtlich. Man denke nur an Dave Dee, Dozy, Beaky, Mick & Tich. Alle Lieder bis auf eins handeln vom Auf und Ab der Beziehungen, von Sprachlosigkeit, Kommunikationsproblemen, irgendwo zwischen Kneipe und WG und nicht ohne Humor. May singt die Texte wunderbar lakonisch mit seiner angeraspelten Stimme. Klasse Gruppe, tolles Album. Die letzten Worte der Scheibe sind: „Das Krokodil raucht zu viel! Ach ja?“. Unbedingt hören! Jörg Ermisch
| BONITA & THE BLUES SHACKS Bonita & The Blues Shacks bluesshacks.de (Crosscut Records, CCD 11110) 15 Tracks, 49:19 , mit engl. Infos
Seit mehr als zwanzig Jahren bereichern B. B. and The Blues Shacks die internationale Szene mit ihrem ganz eigenen Sound aus Jump Blues und R&B der Vierziger und Fünfziger, gepaart mit viel Soul. Nun haben sich die fünf Musiker mit einer jungen südafrikanischen Sängerin zusammengetan. Mit ihrer besonderen Ausstrahlung und Stimme komplettiert Bonita Niessen das Quintett auf eindrucksvolle Weise. Hinzu kommt, dass die Brüder Michael (Gesang und Mundharmonika) und Andreas Arlt (Gitarre) auch mit den Eigenkompositionen „Don’t Call Me Baby“ und „Bad News“ ein gutes Händchen beweisen. Fabian Fritz spielt auf dem Piano wunderschöne Melodien, und Henning Hauerken zupft den Bass dazu. Für den richtigen Swing ist Andre Werkmeister am Schlagzeug zuständig. Auch dank des schön gestalteten Digipacks ist dies insgesamt eine klasse Produktion aus deutschem Hause – mit Anwartschaft auf die persönliche Platte des Monats. Annie Sziegoleit
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CAROLIN NO Ehrlich gesagt carolin.no (Fuego) 11 Tracks,41:20 , mit dt. Texten u. Infos
Carolin No – ist das gar eine Enkelin von Dr. No aus dem Bond-Film? Oder eine Künstlerin, die etwas negativ drauf ist? Carolin? No! Alles Quatsch! Carolin No ist ein Duo. Logisch. Dem Infomaterial ist zu entnehmen, sogar ein „Ausnahmeduo“. Und die Musik ist „berührend und beglückend“. Mann, Leute, haut doch sprachlich nicht so auf den Putz. Das Versprechen kann doch keiner halten. Auf geht’s mit dem Ehepaar Carolin und Andreas Obieglo. Sie singt und spielt Gitarre, Ukulele und Xaphoon, und er spielt den Rest, Tasten, Gitarre, Banjo und Bass. Und das machen sie beide gut. Obgleich ich bei Carolins Stimme immer denken muss: Vicky, bist du’s, alte Schlagergriechin? Aber die kann ja auch singen. Carolins Texte haben hier und da originelle Ansätze, sind aber oft recht speziell. Am besten finde ich ein Liebeslied auf Bayerisch, vom gebürtigen Bayern Andi gesungen. Einfach und anrührend (!). Zum Schluss noch ein vertonter Fallersleben-Text: „Abend wird es wieder. / Über Wald und Feld säuselt Frieden nieder.“ Jörg Ermisch
| DIVERSE Auf’s Maul geschaut – Regionalsprachen und Dialekte im deutschen Folk profolk.de bcb-records.de (Profolk, BCB-Records) 16 Tracks, 64:43 , mit dt. Infos u. Fotos
Neulich in Bielefeld auf dem Leinewebermarkt fragte der Rezensent eine Reibekuchenverkäuferin, wie denn Reibekuchen auf Bielefelder Platt heißen. Sie wusste es nicht. Dialekte und Regionalsprachen in Deutschland sind im Aussterben begriffen. Profolk e. V. macht mit dem vorliegenden Sampler darauf aufmerksam, wie schön doch die sprachliche Vielfalt ist, vor allem, wenn sie in Liedern zu Gehör gebracht wird. So singen hier Hüsch! auf Hennebergisch, Spuimanovas und Stefan Straubinger auf Bairisch, Herzgespann, Em Huisken, Kai Kankowsi und Spillwark auf Plattdütsch, Why didn’t they ask Evans? auf Hochwald-Moselfränkisch und Martin Schütt auf Niederalemannisch. Und es wird noch exotischer für standarddeutsche Ohren. Kalüün tragen ein Lied auf Föhr-Friesisch, Holger Saarmann & Vivian Zeller eines auf Pennsylvania Dutch und Ziganimo eines auf Jiddisch vor. Insgesamt sind es zwölf verschiedene Solisten, Duos und Bands mit traditionellen und neuen Liedern, mit diversen Musikstilen, wobei nord- und süddeutsche Musiker gegenüber den Kollegen aus den Regionen dazwischen leider etwas in der Überzahl sind. Das schreit nach einer Fortsetzung. Übrigens gibt es in Bielefeld-Schildesche eine Wirtschaft, die Kartoffel-Püfferken auf der Speisekarte hat. Michael A. Schmiedel
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DIVERSE Refugees Welcome – Gegen jeden Rassismus springstoff.de (Springstoff CD-NOBO-0076) 22 Tracks, 79:43 , mit ausführlichen dt. Infos zum Thema
„Fuck you Frontex“, so Dirk von Lowtzow, „Fuck you Frontex / Fuck you Frontex“. Geht’s noch kindischer? Also auch dümmer? Frontex ist eine Agentur der EU, also der Mitgliedsstaaten, also Deutschlands. Frei gewählte Vertreter, überall. Also fuck wen, wenn überhaupt? Davon abgesehen ist dieses Benefiz linker Indies von A Tribe called Knarf bis Gustav aber natürlich lobenswert von A bis Z. Und überwiegend auch luzider als der erwähnte Eröffnungstrack. Man nehme etwa die Antilopen Gang, die mit „Beate Zschäpe hört U2“ einen deutlich brauchbareren Hinweis zur Sache gibt. Wir gut, die böse – wer es sich so einfach macht oder gar glaubt, es sei mit pubertären Posen getan, ist auf dem falschen Dampfer. Die Antilopen Gang halb inklusive, die sich noch vor ihrem U2-Verweis – der natürlich auch auf von Lowtzows Tocotronic erweiterbar ist – auch nicht entblödet, noch einmal Eva Herman mit Hitler in einen Topf zu werfen. Die Gräben laufen durch alle Lager. „The Kids are not alright“, wie Diedrich Diederichsen sagte – nie gewesen. Sämtliche Refugees-Welcome-Erlöse gehen an antirassistische Initiativen – viel Erfolg beim Entwirren des Tohuwabohu; und ein fettes „Gefällt uns“ für das Engagement! Christian Beck
| IHRE KINDER Werdohl ihrekinder.com (Sireena Records) 9 Tracks, 39:09, Vinyl
Sie gehörten in den Siebzigern neben Novalis und Hölderlin zu den frühen Größen deutschsprachiger Rockmusik. Die 1969 gegründete Nürnberger Band blieb aber immer irgendwie ein Geheimtipp, obwohl ihre Platten secondhand ausgesprochen hochpreisig sind. Ihr Markenzeichen war die Mischung aus Rockmusik, sozialkritischen, lyrischen Texten und Romantik. Nun wurde – nach 45 Jahren – Werdohl wieder aufgelegt, als limitierte Auflage auf gelbem, 180 Gramm schwerem Vinyl, erstmals im Klappcover. Ihr viertes Album wurde nach einer sauerländischen Kleinstadt benannt, einer von vielen Tourstationen. Die Texte wirken nach diesen langen Jahren kein bisschen angestaubt – Lieder über eine Prostituierte, einen dumpfen Verführer oder die düstere Beschreibung einer Industriestadt. In „Babylon“ heißt es: „Vor mir sehe ich viele Führer, / die zum Würfelspielen geh’n, / und sie verspiel’n unsern Frieden, / doch die braven Menschenkinder / nehmen das in Kauf.“ In „Kennst du den Mann“ steht: „Er läuft dem einen vor sich nach und hinter ihm im Tritt kann man Millionen seh’n. / Er macht sich auf dem Holzweg dick.“ Musikalisch sind es nicht mehr, wie in den Vorgängeralben Leere Hände und 2375004 (Jeanscover) die großen Melodien, sondern eher die ausgefeilten, gereiften Arrangements, die diesen Deutschrockklassiker ausmachen. Neben Rock gibt es Jazz, Blues, Akustikgitarren, Klavier und Orgel. Und man muss die Wirkung dieser Musik auf Rio Reiser betrachten, der mit Ton, Steine, Scherben dort anknüpfte, wo Ihre Kinder aufhörten. Piet Pollack
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REINHARD MEY Mr. Lee reinhard-mey.de (Universal 4769396 9) 15 Tracks, 71:58 , mit dt. Texten u. Infos
Reinhard Meys dreiundsiebzig Jahre zeigen Spuren. Der Liedermacher ist sanfter geworden – speziell im Vergleich zur Jahrtausendwende, als er im Streit um dies und das auch schon mal über die Stränge hieb. Zarter. Auch schon etwas kraftloser? Vor allem ist ihm wohl der tragische Tod seines Sohnes Maximilian vor einigen Jahren in die Knochen gefahren – „So lange schon“ oder „Mr. Lee“, mitsamt Tochter Victoria-Luises Booklet-Illustration, lassen da keine Zweifel. Eigentlich nur einmal, mit „Herr Fellmann, Bonsai und ich“, schwingt Mr. Lee sich zu einer gewissen Heiterkeit, Beschwingtheit auf – griffige Komposition inklusive. Der überwiegende Rest ist Andacht und Sentimentalität. Eine Andacht wie vom Kalenderblatt, dazu kompositorisch überwiegend schwächelnd und kunsthandwerklich perfekt bis zur Sterilität. Eine Sentimentalität, die offenbar wenig mehr im Sinn hat, als sich reiner Nostalgie hinzugeben. Und ein – wenn auch sicherlich bewusst – durchgehend unzeitgemäß wohlprononcierter Vortrag. Mr. Lee schaut stur gefühlig zurück – mit eigentlich nur einem einzigen Blick nach vorn: Man möge dem Künstler ins Altenheim zurückhelfen, sollte das einmal nötig sein. Rührend – aber doch eigentlich zu früh! Christian Beck
| THE RED HOT SERENADERS Down The Big Road redhotserenaders.de (Eigenverlag) 20 Tracks, 67:45
Der akustische Blues der 1930er- bis 1950er-Jahre, gesungen von Tanja Wirz und Rainer Wöffler und gespielt auf Gitarre, Ukulele, Banjo und Mandoline. Hinzu kommt die gelegentliche Begleitung von Klaus „Mojo“ Kilian an der Bluesharp und Dirk Vollbrecht am Kontrabass. Ein ganz wunderbares Album ist entstanden, auf dem die Musiker gekonnt zwischen Blues, Ragtime und Boogie-Woogie changieren und auch Elemente von Soul und Jazz einflechten. Vor ebendiesen Spuren des Jazz warnt augenzwinkernd ein kleiner Hinweis auf dem Booklet, vor möglichen allergischen Reaktionen, die sich jedoch allenfalls in guter Laune und beschwingtem Mitwippen äußern können. Musikalisch ist hier alles absolut virtuos und gekonnt umgesetzt, dabei jedoch unverkrampft, frisch und verspielt dargeboten. Dem aufmerksamen Zuhörer offenbart sich jederzeit die tiefe Kenntnis und Liebe der Red Hot Serenaders zu ihrer Musik, die sich auch in der geschmackvoll gestalteten Hülle der CD widerspiegeln. Neben kurzen Infos zu den einzelnen Songs sind auch die alten Originalinstrumente aufgelistet, mit deren Hilfe dieses schöne Album entstanden ist. Achim Hennes
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NADINE MARIA SCHMIDT & FRÜHMORGENS AM MEER Ich bin der Regen nadinemariaschmidt.de (BSC 307.0180.2/Roughtrade) 16 Tracks, 56:38 , mit Texten u. Infos
Das Vertonen von Literatur ist nicht ohne Risiken. Zwar freut man sich, wenn Achim Reichel den „Erlkönig“ rezitiert oder Rilke in die Charts aufsteigt, aber betrachtet man aus musikalischer Sicht die Versuche, Gedichte, also Worte, die zum Lesen und Vorlesen geschaffen wurden, in Noten auszudrücken, so bleibt es oft doch Hausmannskost. Der Musiker bleibt in der Regel seinem musikalischen Repertoire treu und bastelt das Gedicht irgendwie darüber. Ich bin der Regen ist vollständig anders. Genial anders. Die Künstlerin hat sich in die Lyrik hineinversetzt, um die Musik zu ergründen, die in den Worten liegt. Die ureigene Sprachmelodie, die in jedem Gedicht steckt, unverkennbar, unverwechselbar. Die Künstlerin destilliert die Töne aus den Texten und schafft aus diesen Songs ein eigenes Kunstwerk. So klingt jedes Werk völlig unterschiedlich und doch, bei aller Verehrung für die großen Meister, wie eine Eigenkomposition, stimmig und geschlossen. Da wird von Eichendorff zum Popstar, und Hedwig Lachmann klingt wie eine Komposition von Lou Reed. Dieses Album veredelt die alten Meister und macht hungrig auf die Worte. Ich bin der Regen erreicht, wo der Deutschunterricht versagt. Chris Elstrodt
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