PLATTENPROJEKTEs gibt im Musikbereich immer wieder Veröffentlichungen, die den Rahmen herkömmlicher Produktionen inhaltlich wie vom Umfang her sprengen und deshalb einer ausführlicheren
Betrachtung bedürfen, als dies in Form einer üblichen Rezension geleistet werden kann. Die Folker-„Plattenprojekte“ widmen sich in loser Folge
solchen außergewöhnlichen Serien, Boxen, Sammlungen, Sondereditionen bis hin zu vergleichbaren Unternehmungen wie etwa Internetprojekten, die auf physische Tonträger inzwischen zunehmend verzichten.
In diesem Heft schreibt Ulrich Joosten über
Sänger, Schreiber und Studenten – das Rostocker Liederbuch aus dem 15. Jahrhundert
Mit einem „neuen“, bislang nie auf Tonträger veröffentlichten Album der legendären Göttinger Folkband Lilienthal hätte wohl niemand mehr gerechnet. Jahrelang schlummerten die Aufnahmen aller mit Noten erhaltenen Lieder des lange verschollenen Rostocker Liederbuches in den Archiven von Radio Bremen. Dass es diese Noten und Texte überhaupt vom fünfzehnten bis ins zwanzigste Jahrhundert geschafft haben, ist einem unglaublichen Zufall zu verdanken. Im Jahr 1914 macht der Bibliothekar Bruno Claußen an der
RAINER SCHOBESS UND LILIENTHAL Sänger, Schreiber und Studenten – das Rostocker Liederbuch aus dem 15. Jahrhundert (Tennemann, tennemann.com) Do-CD, 25 Tracks, CD 1: 39:15, 10 Tracks, CD 2: 67:56, 15 Tracks
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| Universitätsbibliothek in Rostock eine aufregende Entdeckung: Er bemerkt, dass der Deckel eines Buches aus dem sechzehnten Jahrhundert mit altem, bereits beschriebenem Papier beklebt ist. Ein Buchbindermeister hatte im Jahr 1568 offenbar das Papier des ausrangierten Gesangbuches verwendet, um die Einbanddeckel einer Anzahl Bücher für Herzog Johann Albrecht I. von Mecklenburg zu verstärken. So lagen die insgesamt achtundzwanzig Blätter dreihundertfünfzig Jahre lang unentdeckt in ihrem Versteck, bis sie von Claußen bemerkt wurden.
Für den Volkskundler und NDR-Redakteur Rainer Schobeß ist das Rostocker Liederbuch, wie er sagt, „ein Lebensthema. Es ist ein einzigartiges Dokument, die älteste Sammlung weltlicher Lieder in mittelniederdeutscher Sprache. Und es hat eine verrückte Geschichte. Aufgeschrieben, vergessen, zerschnitten, fast vernichtet und dann nach Jahrhunderten zufällig wiederentdeckt. Ein echter Krimi. Vor allem aber finden sich darin wunderbare Lieder mit schönen Melodien.“
Als Student in Göttingen entdeckt Schobeß 1976 eine wissenschaftliche Ausgabe der Liedersammlung und ist sofort fasziniert. „Da hatten Studenten Hunderte Jahre vor mir Lieder gesungen, zum Beispiel über Sex und Politik, Themen eben, die den jungen Menschen besonders interessieren …“ Ein Lied dieser Sammlung, „Heio“, erscheint schon 1977 auf Lieder und Tänze, dem ersten Album seiner damaligen Band Lilienthal. Die Göttinger Folkband ist in den Siebziger- und Achtzigerjahren eine der wichtigsten Gruppen des deutschen Folkrevivals und hat seit jeher ein Faible für Stilelemente der Renaissancemusik. Welche andere Gruppe wäre prädestinierter, die weltlichen und geistlichen Lieder des Rostocker Liederbuches authentischer klingend einzuspielen? Im Jahr 1981 spielt die Gruppe das richtungsweisende Album Jetzt ist Zeit und Stunde da ein, beschreitet 1983 mit dem Instrumentalalbum Tanzteufel neue, elektrifizierte Wege und nimmt gemeinsam mit dem kolumbianischen Tenor Jorge López Palacio ein international beachtetes Album mit dem Titel Colombia Paloma Herida auf.
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