PLATTENPROJEKTEs gibt im Musikbereich immer wieder Veröffentlichungen, die den Rahmen herkömmlicher Produktionen inhaltlich wie vom Umfang her sprengen und deshalb einer ausführlicheren
Betrachtung bedürfen, als dies in Form einer üblichen Rezension geleistet werden kann. Die Folker-„Plattenprojekte“ widmen sich in loser Folge
solchen außergewöhnlichen Serien, Boxen, Sammlungen, Sondereditionen bis hin zu vergleichbaren Unternehmungen wie etwa Internetprojekten, die auf physische Tonträger inzwischen zunehmend verzichten.
In diesem Heft schreibt Martin Steiner über
den Liederzyklus
Bella Ciao
„Bella Ciao“, jedes Kind kennt das Widerstandslied der Partisanen. Das Lied geriet nach dem zweiten Weltkrieg fast in Vergessenheit. Schließlich machte es Yves Montand 1962 mit seiner Aufnahme in der ganzen Welt populär. Ursprünglich war „Bella Ciao“ ein Lied über die Ausbeutung der Reisarbeiterinnen in der Poebene. Das Verdienst, beide Versionen dem italienischen Publikum nähergebracht zu haben, gebührt Nuovo Canzoniere Italiano. Die Gruppe machte „Bella Ciao“ zum Titelsong ihres Liederzyklus und ging damit 1964 auf Tournee. Die
DIVERSE Bella Ciao (Visage Music/Galileo, galileomusic.de) 18 Tracks, 54:31
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| schnörkellosen, nichts beschönigenden Darbietungen der Canti Popolari gelten als Anfang des italienischen Folkrevivals. Fünfzig Jahre später beleben Größen der aktuellen Folkszene Italiens diese zeitlosen Lieder neu.
Die Uraufführung von „Bella Ciao“ fand am 21. Juni 1964 in Spoleto, Umbrien, im Rahmen des Festival dei Due Mondi statt. Das Konzert im altehrwürdigen Teatro Caio Melisso, einer Hochburg des konservativen Bürgertums, stand unter keinem guten Stern. Die Stimmung war vom ersten Moment an geladen. Auf der Bühne standen die Sängerinnen und Sänger des Nuovo Canzionere – Giovanna Marini, Giovanna Daffini, Caterina Bueno, Michele Luciano Straniero, Sandra Mantovani und die Gruppo Padano di Piadena – mit einem Programm aus Arbeits-, Widerstands- und Liebesliedern. Kaum hatte das Konzert begonnen, zeigten die wohlbeleibten Herrschaften im Parkett ihr Missfallen. Nachdem die frühere Reisarbeiterin Giovanna Daffini auf die Bühne getreten war, stand eine Frau auf und schrie: „Ich habe nicht tausend Lire bezahlt, um mein Dienstmädchen singen zu hören.“ Als die Gruppe im Landarbeiterstreiklied „E Per La Strada“ den Vers „ich möchte nicht im Stall sterben“ sang, tobte eine pelzbehangene Dame los: „Ich besitze dreihundert Landarbeiter, und keiner schläft im Stall.“
Doch es kam noch wilder. Michele Luciano Straniero hielt sich nicht an die für das Konzert vorgegebene Fassung des Antikriegslieds „Gorizia“. Nach der Strophe „Traditori signori ufficiali, / che la guerra l’avete voluta, / scannatori di carne venduta“ („verräterische Offiziere, / ihr wolltet den Krieg, / ihr Menschenschlächter“) eskalierte die Situation. Offiziersanwärter der Militärakademie Spoleto und angesehene Bürger erhoben sich von ihren Sitzen und schrien, „Hoch lebe Italien, hoch leben die Offiziere!“ Darauf intonierte das Volk vom Balkon herunter „Bandiera Rossa“, was vom Parkett postwendend mit „Facetta Nera“, der Faschistenhymne, beantwortet wurde. Fellini hätte kein besseres Drehbuch schreiben können. Nanni Ricordi, der künstlerische Leiter des Festivals, demissionierte noch am selben Abend und Michele Luciano Straniero wurde von den Streitkräften des Landesverrats angeklagt.
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