Rezensionen der Ausgabe 5/2015
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KARIBIK
| CHASSOL Big Sun www.chassol.fr (Tricatel TRICDFR046/Broken Silence) 27 Tracks, 69:44
Der aus Martinique in der Karibik stammende Avantgardemusiker Christophe Chassol hat mit Big Sun seiner Heimat ein mehr als ungewöhnliches Denkmal gesetzt. Auf dem Album verwendet er Feldaufnahmen aus einem Dokumentarfilm und O-Töne. Das Spektrum reicht von Vogelgesängen, Gesprächen, Gedichtvorträgen und Gesängen der Einwohner Martiniques, Flötenspiel, Karnevalklängen, Muschelhornechos bis zu Ozeangeräuschen und vielem mehr. Doch ist dies nur das Rohmaterial für die Musik. Über ein im Grunde Midi-basiertes Programm geben die Tier- und Menschenlaute Impulse für ein in der Melodik synchron zu hörendes Instrumentalspiel. Sprachmelodie und Instrumentalspiel sind quasi unisono, Teile davon werden geloopt, um dann Impulse für die sich daraus entwickelte Komposition eines Instrumentalstücks zu geben. Eine geniale Idee. Eine zufällige Sprachaufnahme eines Bewohners kann so zu einer Art Rap mit aus der Rede erschaffenen Breakbeats und musikalischer Begleitung werden. Die Musik variiert zwischen ungewohnt und verblüffend, aber auch zwischen Hörbild und Filmmusik. Es ist bereits das dritte Album Chassols in dieser Art und vermittelt eine bis dahin kaum bekannte Technik, Sprache und Geräusche eines Landes musikalisch zu verarbeiten. (Nur vom Brasilianer Hermeto Pascoal sind ansonsten derartige Aufnahmen bekannt.) Aus den in der Neuen Musik bekannten Soundscapes wird so eine Art O-Ton-Musik. Und dieser Begriff trifft es auch am besten, obwohl Chassol seine Methode „Ultrascores“ nennt. Zum Album gibt es außerdem eine frei herunterladbare Filmfassung mit all den Begegnungen, die die Grundlage des Albums bilden. Eine Menge musikalischer Weiterverarbeitung, Improvisation und Abmischung sowie metrische Anpassung war notwendig, um alles derart natürlich wirken zu lassen. Auch wenn die dabei entstandene Musik manchmal gewöhnungsbedürftig erscheint, ist dieses Werk allein von seiner Komplexität und dem Konzept her als revolutionär zu bezeichnen. Hans-Jürgen Lenhart
| SPANIEN
| MAUI Viaje Interior soymaui.com (Nuevos Medios NM 15927/Galileo MC) 11 Tracks, 36:15 , mit span. Infos u. Texten
Für eine „innere Reise“, wie die deutsche Übersetzung des Albumtitels lautet, hat das per Crowdfunding realisierte Album viele Zeugen und gute Geister. Die lange Liste beteiligter, vor allem in Madrid lebender Musiker, darunter Koryphäen wie der Flamencojazzer Jorge Pardo, der kubanische Bassist Yelsy Heredia oder die hörbar seelenverwandte Sängerin Martirio, lässt die große Beliebtheit der Cello spielenden Sängerin in ihrer Wahlheimatstadt erahnen. Die charmante, poesievernarrte Singer/Songwriterin mutet ein wenig wie das spanische Pendant zu Dota Kehr an mit ihrer unaufgeregt klingenden, in ihrer angenehmen Schlichtheit dennoch charismatischen Stimme. Dabei kommt Maui zumindest optisch spleeniger daher als die Berlinerin, wie Albumfotos und Videoclips zeigen. Dann ist da auch die fast durchgängige, die Tradition recht frei auslegende Flamencospur, die auch den Gesang der aus dem andalusischen Utrera stammenden Künstlerin zart durchzieht. Das reiche, fantasievoll eingesetzte Instrumentarium enthält hier und da eine Flamencogitarre. Zu hören sind, samt der üblichen Palmas und Jaleos, traditionelle Rhythmen wie etwa ein liedtitelgebender Tanguillo („Tanguillo De La Sardina“). Das „Orthodoxeste“, weil gängige Flamencoalbenlänge, sind die (leider!) nur gut dreißig Minuten, die musikalisch allerdings wirkungsvoll genutzt sind. In denen wähnt man sich per Tango („Ay De Mi“) auch mal in Argentinien oder an einem imaginären, zwischen den Kapverden und Brasilien siedelnden Ort, etwa im ausnehmend schönen Opener „De Baldosas Amarillas“. Die vielen guten, kreativen Energien von und um Maui zu einem wohlklingenden Ganzen zu bündeln, ist ein großes Verdienst von Diego Guerrero, der als Multiinstrumentalist und Produzent ein wichtiger Impulsgeber in Madrids Szene ist. Diese Erstveröffentlichung unter eigenem Namen – zuvor firmierte die Künstlerin lange als Maui y los Sirénidos – erscheint bemerkenswerterweise bei Nuevos Medios, dem Pionierlabel des Nuevo Flamenco, das zur Freude der Aficionados unter anderem mit diesem Album seine Arbeit wieder aufnahm. Katrin Wilke
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