Rezensionen der Ausgabe 6/2014
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MIREL WAGNER When The Cellar Children See The Light Of Day www.mirelwagner.com (Sub PoP SP1075) 10 Tracks, 31:09 , mit Texten
Mirel Wagner ist in Äthiopien geboren, aber in Finnland aufgewachsen. Das bereits könnte Neugier wecken, und tatsächlich, ihr Bluesfolkalbum ist ein außergewöhnliches Werk. Mit ihrer zerbrechlichen Stimme vertont sie alle Hoffnungslosigkeit der Welt. Sie begleitet sich auf der Gitarre mit spärlichen spröden Akkorden, lediglich begleitet von Keyboards und Cello des einzigen Mitmusikers, Grammy-Gewinner Craig Armstrong. Musikalisch schmerzhaft reduziert bis zum absolut Notwendigen schleichen sich ihre düsteren Lieder in das Herz des Hörers, ein perfekter Alptraum für Alkoholiker oder Liebeskranke. Mirel Wagner verbündet sich in ihren Songs mit Nick Cave oder Dead Moon. Ihr Album erreicht die Intensität der Texas Campfire Tapes von Michelle Shocked. Der Gesang von Mirel Wagner hat nichts vom Blues, nichts von afrikanischer Gesangskultur. Stattdessen klingt sie wie die minderjährige Tochter von Nico nach einer Psychose. Sogar die Zeit zeigt sich beeindruckt und spendiert dem Album eine ausgiebige Besprechung. Zielgruppe des Albums ist dementsprechend eher der intellektuelle Punk, der früher die Neubauten gehört hat und nun sein Burn-out-Syndrom pflegt. Wer als Folkfan mit der dunklen Seite der Macht liebäugelt, sollte bei Mirel Wagner aufhorchen. Chris Elstrodt
| WELTENKLANGHAUS Raga Against The Machine www.weltenklanghaus.de (Weltenklanghaus GM 011414) 8 Tracks, 55:37
Die ersten Sonderpunkte gibt’s schon mal für den Albumtitel. Doch was wie eine augenzwinkernde Parodie scheint, ergibt hier durchaus Sinn. Denn so wie Zack de la Roches alte Band ihr Repertoire aus recht heterogenem Material rekrutierte, so mischt auch der Eigner des Weltenklanghauses, Peter Krämer, gerne verschiedene (welt-)musikalische Stile zu etwas Neuem zusammen. Ein schönes Beispiel dafür ist Krämers Komposition mit dem skurrilen Titel „Felakutiaufkoxinkalkuti“, ein Parforceritt durch indische, afrikanische und krautrockmusikalische Welten. Doch bei aller Leidenschaft für den Crossover-Gedanken, Krämers große Liebe bleibt die indische Klassik. So ist denn auch das Weltenklanghaus komplett in indischer Hand. Sudokshina Chatterjee Manna (Gesang), Rajib Karmakar (Sitar), Prosenjit Sengupta (Sarod) und Subrata Manna (Tabla) bilden das Fundament, auf das der gelernte Gitarrist Krämer seine „Rockwerke“ aus Saiten, Tasten und Fellen schichtet. Und so beginnen die Stücke des WKH nicht selten mit dem obligaten Sitar-Arpeggio und enden mit rockigem Schlagwerk. Gewiss, Crossover ist nichts für Puristen. Aber wenn’s so gut gemacht wird wie hier, dann spricht absolut nichts dagegen! Walter Bast
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SALLY NYOLO Tiger Run www.sallynyolo.com (Riverboat Records TUGCD 1085) 10 Tracks, 38:14 , mit engl. Infos
Tiger in Afrika? Schlüssig ist Nyolos Erläuterung für den Titel des nunmehr achten Soloalbums nicht: Ihr bürgerlicher Familienname soll „Tochter der Schnurrhaare des Tigers“ bedeuten! Jedenfalls verdeutlicht diese Symbolik die Verbundenheit der Künstlerin zu Kameruns Fauna und Flora. Sie appelliert an die Hörer, ein offenes Ohr für die Geräusche und Klänge der Umwelt, zum Beispiel der Wälder, zu haben. Das Spektrum der vornehmlich selbst komponierten Songs ist breit, reicht vom landestypischen Bikutsi über die von Zap Mama her bekannte Vokalakrobatik (im Opener „Bidjegui“) zur Francopopballade des Titelstücks. Das Gros der Stücke ist eingängig und gut tanzbar, von Soukous, Funk und Afrorock inspiriert. Die raffinierten Arrangements (Highlight: „Welcome“) lassen selten Langeweile aufkommen, die von Nyolo selbst verantwortete Produktion wirkt nie überladen, trotz des Großeinsatzes an Studiomusikern (darunter Jazzdrummer Paco Séry und Percussionist Jo N’Gala). Es mag ihr Herzenswunsch gewesen sein, mal mit einer Opernsängerin zusammenzuarbeiten – das an sich reizende „Le Faiseur De Pluie Par Tous Les Temps“ wird durch die „Einlagen“ der Sopranistin Nathalie Leonoff aber eher zur Lachnummer! Roland Schmitt
| SIERRA LEONE’S REFUGEE ALL STARS Libation sierraleonesrefugeeallstars.com (Cumbancha CMB-CD-30) 12 Tracks, 47:47 , mit engl. Infos u. Übers.
Schon sehr bemerkenswert, was sich aus einer eher zufällig zusammengewürfelten Band inzwischen entwickelt hat. Die beiden „Köpfe“ der All Stars, Sänger und Songwriter Reuben M. Koroma und Gitarrist Francis „Franco“ John Langba, fanden nach der Flucht aus ihrem im Bürgerkrieg versinkenden Heimatland Ende der 1990er-Jahre in einem guineischen Flüchtlingslager zusammen, bevor sich weitere Musiker, Sänger und Sängerinnen anschlossen. Seit ihrem Debütalbum (2006) erlebt die Band eine sensationelle Karriere, gefeierte Konzertreisen und mit Preisen ausgezeichnete Alben sowie intensive Kontakte zu Stars der internationalen Pop- und Rockszene (unter anderem zu Aerosmith [!]). Ihrem sehr breit gefächerten Musikmix aus eingängigem Reggae, Afrofunk und -beat sowie Soukous bleibt das Septett auch auf seinem vierten Opus treu. Aber es ist auch ein bewusst vollzogener Schritt „back to the roots“, zu Highlife und Palmweinmusik. Keine überfrachteten Arrangements, aber weiterhin melodische, meist tanzbare Songs, die gleichwohl aussagekräftige und kritische Textinhalte transportieren. Der Albumtitel erinnert an die in vielen afrikanischen Kulturen gebräuchlichen Trinkzeremonien, mit denen geliebte Menschen geehrt werden. Roland Schmitt
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AMERICAN NOMAD Country Mile www.americannomadmusic.com (Spruce and Maple Music SM 1101) 13 Tracks, 58:14
Mit dem Namen Hassan El-Tayyab wird man in den USA derzeit nur schwer Karriere machen. Aber unter diesem Ziel dürfte der Nachfahre eines Beduinenvolkes auch nicht angetreten sein. Im Namen seiner Band steckt er noch drin, der Nomade. El-Tayyab zog es in seinem Chevy Malibu quer durch Nordamerika, von Boston aus übers ganze Land, bevor er in der kalifornischen Bay Area hängen blieb. Dort lernte der Gitarrist die Sängerin Shilo Parkerson kennen, die mit ihrer kräftigen Stimme etliche Stücke des Albums prägt – beeinflusst von so unterschiedlichen Künstlerinnen wie Gillian Welch, Loretta Lynn und Billie Holiday. Was in etwa auch die musikalische Bandbreite der Stücke erfasst: Die zum Großteil von El-Tayyab stammenden Songs berühren Old-Time, Western Swing, Country, Blues und Folk. Einige von ihnen hätten das Zeug, zu Klassikern zu werden, etwa der Folksong „Be Here Now“ mit seiner intimen Fingerpickinggitarre und der Botschaft, im Hier und Jetzt zu sein und den eigenen Augen zu trauen. Oder „Hallelujah“, das mit ausstrahlender Wärme entzückt, eine zu Herzen gehende Countryballade – aber ganz ohne schmalziges Timbre. Wenn das die Musik amerikanischer Nomaden ist, dann bitte gerne. Volker Dick
| FLACO & MAX Legends & Legacies https://myspace.com/flacojimenezmusic (Smithsonian Folkways SFW CD 40569/Galileo MC) 17 Tracks, 58 min , 44-seit. Booklet mit engl. u. span. Texten u. Infos
Flaco Jiménez und Max Baca gehören zu den Familiendynastien, die Tejano Conjunto Musik über die Grenzen von Texas hinaus bekannt gemacht haben. Flaco, dessen Spiel auf dem dreireihigen Knopfakkordeon einem breiteren Publikum erstmals durch Ry Cooders Chicken Skin Music bekannt wurde, feierte dieses Jahr seinen 75. Geburtstag. Max, Jahrgang 1967, stand mit sieben Jahren zum ersten Mal mit Flaco auf der Bühne, der sich im weiteren Verlauf als Mentor und Lehrer des jungen Banjo-Sexto-Spielers erwies. Das vorliegende Album feiert auf siebzehn Stücken die traditionelle Conjunto Musik, wie sie seit Generationen gespielt wird. Wir hören Klassiker wie „Margarita, Margarita“, Standards wie „Mi Primer Amor“, das seit Dekaden zu Flacos Programm gehört, oder auch Stücke, die Flacos Vater Santiago Jiménez Sr. verfasst hat. Zum ersten Mal in ihrer Karriere singen Max und Flaco gemeinsam, und Akkordeon und Barca, begleitet von Bass und Schlagzeug, sind die Grundlage jeden Stückes. Die Beiden sind in ihrem Element, und es gibt dementsprechend musikalisch keine Überraschungen. Die Produktion ist transparent und auf das Wesentliche beschränkt. Eine schöne Zusammenfassung des Genres von zwei Veteranen und Meistern ihres Faches. Dirk Trageser
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CHUCK PROPHET Night Surfer www.chuckprophet.com (Yep Roc Records/Cargo-Records) Promo-CD, 12 Songs, 46:33
Nach Anfängen als Gitarrist des Folkrockquartetts Green on Red steht Prophet bereits seit über zwanzig Jahren als Solokünstler auf der Bühne. Mittlerweile ist mit Night Surfer sein dreizehntes Album auf dem Markt. Peter Buck (Ex-R.E.M.) ist – wie beim Vorgängeralbum Temple Beautiful – wieder mit dabei und trägt zum folkigen Sechzigerjahre-Flair der Songs bei. Doch ist Prophet vor allem ein persönlicher Geschichtenerzähler, der sich zeitkritische Kommentare verkneift. Die näselnde Stimme des fünfzigjährigen US-Amerikaners wird immer wieder gerne mit der von Kinks-Mastermind Ray Davies verglichen. Tatsächlich sind weitere musikalische Parallelen herauszuhören, wenngleich sich Chuck Prophet durch seine Zusammenarbeit mit so unterschiedlichen Musikern wie Bob Neuwirth, Jim Dickinson, Warren Zevon, Jonathan Richman oder Lucinda Williams als vielseitiger Musiker hervorgetan hat, der nicht immer im Mittelpunkt stehen muss. Gerade sein vielschichtiges Können kommt auf Night Surfer deutlich zum Tragen. Gitarrenbetont sind die Songs, und gerne setzen akustisch gespielte Streicherarrangements weiche Akzente. Abwechslungsreich ist dieses Album gestaltet, doch bleibt es vor allem im folkigen Songwriterbereich verortet. Michael Freerix
| CHRIS SMITHER Still On The Levee – A 50 Years Retrospective www.smither.com (Homunculus Music/Signature Sounds 74374/Cargo) CD 1: 13 Tracks, 46:12; CD 2: 12 Tracks, 46:58 , mit Texten
Wer den baumlangen Chris Smither schon einmal live gesehen hat, mag kaum glauben, dass der in Miami geborene und in New Orleans aufgewachsene Songschreiber bereits siebzig Jahre alt ist und fünfzig davon auf der Bühne steht. Ausgefeiltes, souverän entspanntes Fingerpicking, von Lightnin’ Hopkins und Mississippi John Hurt inspiriert, und eine leicht nuschelige, aber kraftvolle Stimme, die klingt, als habe ihr Besitzer vor dem Auftritt noch schnell mit Glasscherben in Bourbon gegurgelt. Seit Smithers 1970 sein erstes Album I’m A Stranger Too aufnahm, entstanden viele musikalische Freundschaften, mit Bonnie Raitt etwa, mit Lowell George oder mit Dr. John. Seinen bekanntesten Song, „Slow Surprise“, nahm Emmylou Harris für den Soundtrack des Films Der Pferdeflüsterer auf. Smithers Lieder erzählen tiefgründige Alltagsgeschichten über die universalen Themen Liebe, Leben und Verlust. Die Retrospektive umfasst fünfundzwanzig davon, die er mit seiner Stammband neu und, kurz gesagt, brillant eingespielt hat. Hochkarätige Gäste veredeln die Produktion, darunter Loudon Wainwright III (Gitarre und Gesang) und Allan Toussaint (Klavier). Hinzu kommen Smithers Schwester Catherine Norr (Gesang) sowie seine Tochter Robin (Geige). Gelegentliche Slide-Guitar- oder Cellolinien verfeinern die ausgefeilten Arrangements zu einem Genuss. Ulrich Joosten
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FRANK SOLIVAN & DIRTY KITCHEN Cold Spell www.dirtykitchenband.com (Compass Records 7 4633 2) Promo-CD, 10 Tracks, 48:23
Nach dem ersten Stück scheint klar: Was danach kommt, kann kein reiner Bluegrass sein. Eher ein akustisch vom Bluegrassinstrumentarium geprägtes Album voller kompositorischer Finessen und Feinheiten des Arrangements. Der frühe Eindruck relativiert sich dann im Laufe der zehn Songs – im Kern bleibt es Bluegrass, allerdings mit Elementen aus Jazz, Rock, Blues und Country beeindruckend anders formuliert. Davon kündet nicht nur der „Country Song“, der so gar nicht wie ein solcher klingt, sondern in dem es vor Breaks und schrägen Soli wimmelt und der zudem eine Länge von über acht Minuten erreicht! Prog-Grass offenbar. Dagegen lebt „She Said She Will“ von einem Bluesrock-Groove, bei dem die erstklassige Band mit Chris Luquette (g), Mike Munford (banjo) und Danny Booth (b) nichts verbirgt von ihrer kompakten Virtuosität, die sich durchs gesamte Album zieht. Frank Solivan zeigt sich als der gewohnt geschmackssichere Mandolinenspieler, brilliert aber genauso als Sänger, gleich ob soulig oder balladesk – gelegentlich umrahmt von wunderbaren Gesangsharmonien. Es gibt Bluegrass, den muss man nicht auf Platte bannen. Cold Spell lohnt dagegen das Zuhören von vorn bis hinten. Volker Dick
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MÁRCIO FARACO Cajueiro www.marciofaraco.com (World Village SKU 479100/Harmonia Mundi) 11 Tracks, 40:57
Ziemlich unbekannt ist, dass es in Frankreich eine Garde hervorragender brasilianischer Musiker gibt, die fast immer aufhorchen lassen, verirrt sich mal eines ihrer Alben zu uns. Márcio Faraco ist einer von ihnen, und er spielt nicht nur die Musik Brasiliens, sondern lässt klar erkennen, dass er in Frankreich wohnt. Da klingen ein Musetteakkordeon und Gypsy Swing an, und der dezente Gesangsstil hätte auch zu Chansons gepasst. Tatsächlich singt er auch einmal Französisch. Stimmlich erinnert er an Gilberto Gils leise Balladen, vermittelt aber mehr Jazzfeeling. Eine seiner stärksten Melodien hat „Mundo Lelê“ mit seinem hüpfenden Rhythmus aus Bahia. Durch die butterweiche Klangwelt von Faraco streifen Wolken aus Samba, Xote, Folk und Jazz. Faszinierend, wie Faraco alle seine Anleihen in seinen Sound integriert. Baden Powells Philippe sitzt übrigens seit Jahren am Piano an seiner Seite. Ansonsten passt Faraco in eine Reihe mit ebenso intelligent arrangierenden und dezenten brasilianischen Sängern/Gitarristen wie Vinicius Cantuaria. Hans-Jürgen Lenhart
| O Lendário Chucrobillyman Man Monkey www.myspacecom/chucrobillyman (Off Label Records OLR33/Eigenvertrieb) 10 Tracks, 30:04
Der zweisprachige Name und das vom Musiker entworfene, vibrierende Cover lassen Besonderes ahnen. Klaus Koti aka O Lendário Chucrobillyman nennt sich im Untertitel „Trash Tropical One Man Band Orchestra“, was es irgendwo trifft. Die zehnsaitige Violagitarre, Schlagzeug und Müll [!] werden gleichzeitig bedient, wobei auf dem Album manchmal Overdubs mehrerer Gitarren zu hören sind. Und entsprechend dem Albumtitel spielt sich Chucrobillyman wie vom wilden Affen gebissen durch Garage Rock, Rockabilly, Boogie oder Delta Blues. Der Bottleneck-Blueser ist ein exzellenter Gitarrist, der gar an David Lindleys El-Rayo-X-Zeit erinnert. Die Grundriffs klingen aufgrund der Spielweise fast wie Loops. Die Stimme kommt etwas leise rüber, was daran liegt, dass hier durch eine angeschraubte Flüstertüte gesungen wird. Was der brasilianische [!] Bluespunk jedoch drübergelegt, ist schnell, fetzig, rotzig, archaisch. Da trommelt’s wie im Urwald, und eine geisterhafte Stimme lacht verzerrt aus dem Dschungel. Momentan hat er jedenfalls die beste Scheppergitarre im Universum. Hans-Jürgen Lenhart
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