Tonträger, Bücher, DVDs, Filme, Plattenprojekte und besondere Empfehlungen der Folker-Redaktion.
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ERINNERUNGEN IN MILDEM LICHT
| REINHARD MEY Das Haus an der Ampel (Universal), mit Texten
Es ist inzwischen über fünfzig Jahre her, dass meine Mutter im Buchklub von einer Verkäuferin auf einen jungen Sänger aufmerksam gemacht wurde, der wie Orpheus singen wollte. Über viele Abende im Go In und dem Steve Club, das erste Konzert in der Philharmonie, die Verleihung der ersten Goldenen Schallplatte in einem Berliner U-Bahnzug, weitere Konzerte später und noch später mit eigenen Rezensionen begleitet mich Reinhard Mey, mal mehr, mal weniger intensiv, durch mein Leben. Warum diese Rückschau? Weil die 28. Studioproduktion des bald 78-jährigen Berliner Liedermachers zur Rückschau einlädt, weil sie selbst viele Erinnerungen enthält und im doppelten Sinne rücksichtsvoll ist. Meys Erinnerungen sind in ein sehr mildes Licht getaucht, Kanten und Ecken sind abgeschliffen, er ist mit „allen versöhnt“. Diese Harmonie zieht sich durch die Texte, den Gesang und seine Melodien. Auch da, wo er spöttisch oder ironisch Zeiterscheinungen aufgreift, bleibt er milde, wo man vielleicht etwas mehr Pep erwartet hätte. Für diese harmonische Stimmung sorgt Manfred Leuchter, der seit langem für die Arrangements bei Reinhard Mey verantwortlich zeichnet und auf verschiedenen Tasteninstrumenten auch selbst mitspielt. Auf diesem Album kann man sich die Lieder auf einer ersten CD mit anderen Instrumenten arrangiert anhören und auf einer zweiten CD nur mit Gitarre – Liedermacher Reinhard Mey pur, wie in ganz frühen Jahren. Sein „Skizzenbuch“ nennt er das. Ein schöner Einfall, der einem die Gelegenheit bietet, sich seine Lieblingsversion herauszupicken. Ein liebevoll gestaltetes Booklet mit den Texten lässt zudem auch optisch teilhaben an seinen ganz persönlichen Rückblicken. Ein weiteres Schmankerl sei noch erwähnt, der gemeinsame Song mit seiner Tochter. „Scarlet Ribbons“ haben sie sich auserkoren, einen zuckersüßen, scharlachroten Song, den Harry Belafonte populär gemacht hat und den Victoria-Luise mit glockenklarer Stimme wunderbar intoniert. Rainer Katlewski
| WELTUMSEGELNDES TASTENSPIEL
| DORANTES La Roda Del Viento (Flamenco Scultura)
Der Flamenco wird in einigen seiner Spielarten zu Recht in den gleichen Konzertsälen zelebriert wie Klassik bzw. sogenannte E-Musik und rangiert von seiner Meisterschaft her gut und gerne auf deren „Höhen“. So auch die vorliegenden stil- und stimmungsreichen opulenten fünfzig Minuten mit dem Charakter einer Sinfonie, in deren fünf Akten (tatsächlich vorzufindende Unterteilung) der klassisch versierte Flamenco-Jazzpianist die erste Weltumsegelung 1519 von Ferdinand Magellan und Juan Sebastián Elcano musikalisch nachzeichnet. Die majestätisch-leidenschaftlichen Kompositionen des Albums umspannen die Vorbereitungen (Opener) in der damals zentralen Hafenstadt Sevilla, die auch Dorantes’ Heimat ist, die Ruhe vor dem Sturm und das Gebet zu Gott für ein gutes Gelingen des Unternehmens sowie einige markante, offenbar auch musikalisch gut zu illustrierende Stationen – wie den Río de la Plata oder Brasilien sowie Magellans Tod unterwegs und die Rückkehr der stark geschrumpften Crew von einer teils dramatischen Reise. Zusammen mit (Flamenco-)Chor und Streichorchester realisierte der aus einer in Sachen Flamenco starken Gitanodynastie stammende Instrumentalist und Komponist dieses Auftragswerk zum fünfhundertsten Jahrestag des historischen Großereignisses. Mitunter fühlt man sich gar an musikalisch ähnliche Pioniertaten seines Onkels, des 2016 verstorbenen Cantaor El Lebrijano, erinnert, dem ähnliche klangliche und atmosphärische Allianzen gelangen. Doch abgesehen von den gemeinsamen Erfahrungen steht der Fünfzigjährige, stilistisch aufgeschlossene und experimentierfreudige Tastenmagier, der z. B. mit dem emblematischen Stück „Orobroy“ (auch Titel seines 1998 erschienenen Debütalbums) eine Art Hymne der Gitanos geschaffen hat, längst auf eigenen Beinen. Das neue Album trägt ganz klar Dorantes’ Handschrift, hat Tiefgang und Komplexität, und man kann sich durchaus vorstellen, dass ihn speziell diese, noch dazu in Coronazeiten entstandene Arbeit allerhand Schweiß gekostet hat. Katrin Wilke
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HOFFNUNG, SOLIDARITÄT UND FRIEDEN FÜR MALI
| AFEL BOCOUM Lindé (World Circuit Records), mit engl. u. franz. Textinhalten u. Infos
Noch steht er im Schatten seines legendären Mentors und Onkels Ali Farka Touré (1939-2006), doch sollte sein neues Album, koproduziert von Labelchef Nick Gold und Ex-Blur-Sänger Damon Albarn, endlich dazu beitragen, ihm die gebührende Aufmerksamkeit und Anerkennung zu verschaffen. Bocoum (geb. 1955) stammt wie Touré aus der nahe Timbuktu gelegenen Stadt Niafunké, begeisterte sich schon als Jugendlicher für dessen Musik, lernte Gitarre, beschäftigte sich mit der Musikkultur der Songhai. In diversen Ensembles, auch denen seines Onkels, sammelte er erste Erfahrungen, startete Anfang der Achtzigerjahre sein eigenes Ding. Die enge Zusammenarbeit mit Albarn (u. a. für das Album Mali Music) bescherte ihm auch international eine gewisse Reputation; eigene Alben erschienen eher sporadisch. Mit Lindé legt Bocoum nun ein wahrlich großes und großartiges Opus vor, das nicht nur musikalisch neue Wege geht – wenngleich noch sehr dem sogenannten Sahel Blues verbunden. Es bezieht auch Stellung zur verzweifelten Lage Malis und seiner Menschen. Die meist politisch ambitionierten Texte fordern ein Ende der Gewalt („Jaman Bisa“, „Sambu Kamba“), beschwören die ethnische Vielfalt durch Dialog („Dakamana“), appellieren an „faule Männer“, für ihre Familien aktiv zu werden („Fari Njungu“), hegen Zweifel, ob Migranten in Europa ihr Glück finden können (z. B. im Reggae-Song „Bombolo Lilo“). Bocoums Lieder basieren auf durchweg eingängigen Melodien, oft in einer Call-and-Response-Struktur, mit Chorgesang als Gegenpart zu seiner sonoren Stimme. Eine große Schar an Gastmusikerinnen und -musikern, darunter Violinistin Joan „as Police Woman“ Wasser, Koravirtuose Madou Sidiki Diabaté, Afrobeatdrummer Tony Allen und vor allem Skaposaunist Vin Gordon sorgen für solistische Highlights. Auf fast allen Stücken wirkte „Hama“ Sankaré mit, laut Bocoum „der beste Percussionist der Welt“ und „mein Bruder“. Ihm ist Lindé ausdrücklich gewidmet. Sankaré starb im März 2020, als sein Kleinbus bei Niafunké auf eine Landmine fuhr. Roland Schmitt
| FREUNDLICHE ÜBERNAHME
| WU FEI & ABIGAIL WASHBURN Wu Fei & Abigail Washburn (Smithsonian Folkways Recordings), mit engl. u. chin. Texten u. Infos
Während sich China und die USA derzeit den Stinkefinger zeigen, machen zwei Musikerinnen vor, wie es auch anders gehen kann. Wu Fei spielt die riesige chinesische Zither Guzheng, der japanischen Koto nicht unähnlich, Abigail Washburn das Banjo. Beide singen in ihren Sprachen. Produziert hat Banjolegende Béla Fleck, der für so etwas sehr offen ist. Für beide Künstlerinnen hat das Zusammenspiel einen Synergieeffekt. Einmal haben sie die harmonischen und melodischen Ähnlichkeiten ihrer unterschiedlichen Musikkulturen gut erkannt. Sie suchten nach ähnlichen Tonarten und Akkorden in Liedern ihrer Kultur, die sie dann zu Medleys zusammenfügten. Aber auch Songs mit inhaltlich ähnlichem Kontext oder Textformen wurden verbunden. Besonders deutlich wird das im Stück „Water Is Wide/Wusuli Boat Song“. Beide Lieder scheinen musikalisch und inhaltlich wie füreinander geschaffen zu sein, obwohl ihre Folktraditionen nie tatsächliche Berührungspunkte hatten. Der chinesischen Folklore wird öfter ein rhythmischer Swing versetzt, und gerade bei den Instrumentals merkt man, dass die bisweilen verstaubt wirkende Old-Time-Music plötzlich sehr besinnlich daherkommt. Ihr „Ping Tan Dance“ wiederum ist eine akustische Satire, in der beide als zwei Großmütter über die Benachteiligungen von Musikerinnen schimpfend gackern. Ganz anders „The Roving Cowboy/Avarguli“. Die amerikanische Folkballade startet recht meditativ, nimmt leicht Fahrt auf und verwebt sich dann mit dem uigurischen Lied. Beide haben ihr Konzept über einen Zeitraum von zehn Jahren entwickelt und kennen sich in den jeweils anderen Genres sehr gut aus. Fei und Washburn zeigen durch ihre Kooperation auch, dass ihre als sehr traditionell empfundenen Musikstile nicht per se statisch und hier Kulturen vereint sind, die sich innerhalb der amerikanischen Geschichte der Immigration schon längst hätten stärker befruchten können. Oft kann traditionelle Musik eben nur durch kulturelle Impulse von außen neue Hörer gewinnen. Hans-Jürgen Lenhart
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VORDERASIEN TRIFFT NORWEGEN
| TEREZ SLIMAN When The Waves (KKV – Kirkelig Kulturverksted), mit arab. u. engl. Texten
Als Erik Hillestad 1974 in Oslo sein kleines Medienunternehmen Kirkelig Kulturverksted (mit anhängender Plattenfirma) gründete, waren seine musikalischen Intentionen eher lokaler Natur. Die erste LP enthielt vertonte Texte seines im selben Jahr verstorbenen Vaters Olaf, die folgenden Produktionen bestanden überwiegend aus geistlichen Chorwerken, gelegentlich auch aus Jazz (Arne Domnérus), Folk (Agnes Buen Gardås) oder Chanson (Rolf Wagle). Gut 45 Jahre später ist die „Kirchliche Kulturwerkstatt“ zu einer der führenden europäischen Adressen für Musikerinnen und Musiker aus den – teils krisengeschüttelten – Ländern Vorderasiens geworden. So wie für Terez Sliman. Die 1985 in Haifa geborene Sängerin und Lyrikerin ist – im Gegensatz zu manch anderen KKV-Acts – in ihrer Heimat durchaus etabliert, was möglicherweise daran liegen könnte, dass sich die Poesie ihrer Texte eindeutigen Interpretationen verschließt. Selbst in Songs wie „Hunger“ oder „When Tables Will Turn“ ist etwaiger Protest so brillant verklausuliert, dass die Gefahr eines Aneckens bei den politisch oder religiös Mächtigen kaum besteht. Musikalisch wirken die neun Stücke des Albums in sich sehr geschlossen und rund. Komponist und Bassist Raymond Haddad umschmeichelt Slimans ausdrucksvolle Stimme mit adäquaten Arrangements, wobei er gerne auf seine alten „analogen“ Synthesizer zurückgreift. Abgerundet werden die Songs durch die norwegischen Jazzgrößen Eivind Aarset (E-Gitarren) und Helge Norbakken (Schlagzeug, Percussion), die spannungsreiche Soundtupfer ins musikalische Geschehen einbringen. Walter Bast
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