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Backkatalog   Ausgabe Nr. 4/2017   Internetartikel
»Werden wir uns unserer Zerbrechlichkeit bewusst, können wir uns vielleicht wieder als Brüder sehen.«
Vinicio Capossela * Foto: Hans-Jürgen Lenhart

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Dieser Artikel ist ein Auszug aus der Printversion, das Heft kann bestellt werden unter www.irish‑shop.de.

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Auswahldiskografie:

Canzoni Della Cupa
(Do-CD; La Cùpa/Warner, 2016)

Rebetiko Gymnastas
(La Cùpa/Warner, 2012)

Marinai, Profeti E Palene
(La Cùpa/Edel, 2011)

L’Indispensabile
(CGD/ East West, 2003)

Live In Volvo
(CGD/East West, 1998)


Cover Canzoni Della Cupa


Der phantasmagorische Troubadour

Vinicio Capossela

Italiens bester Geheimtipp

Dem gängigen Klischee italienischer Schmachtsänger entspricht der eher kauzig aussehende Cantautore wirklich nicht. Das gilt auch für seine Musik, denn von griechischem Rembetiko bis zu mexikanischen Klängen bindet Vinicio Capossela alles Mögliche in die Folklore seiner Heimat ein. Seine Arrangements beinhalten auch Sperriges, andererseits gibt er sich live volksverbunden, spielt viele Tarantellas oder sentimentale Melodien. Sein neues Doppelalbum Canzoni Della Cupa ist dagegen von sozialkritischen Liedern und düsteren Balladen geprägt. Die Texte beschäftigen sich mit dem Spannungsverhältnis von Emigration und Heimat, und er hat es optisch als Gesamtkunstwerk gestaltet. Mit seiner anspruchsvollen Musik scheint er durchaus den Nerv des italienischen Publikums zu treffen, denn das Werk gelangte in Italien bis auf Platz eins der Albumcharts. Doch Capossela lässt sich nicht nur auf den Musiker reduzieren, er ist auch als Schauspieler und Schriftsteller erfolgreich.

Text: Hans-Jürgen Lenhart

Die Annäherung an den Künstler Vinicio Capossela zeigt, dass bei ihm das Untypische das Typische ist. Zwar dominieren auf Canzoni Della Cupa die tänzelnden Melodien der italienischen Folklore und eine Art Gothic-Folk-Balladen mit leisen Arrangements, doch gerade seine Konzertalben zeigen, dass er dies massiv aufbrechen kann. Von Ragtime bis Blues, von mittelalterlicher Musik bis zu punkigen Tarantellas – alles ist möglich. Auch seine Kooperationen sind bemerkenswert. Er tourte mit den Balkanbläsern des Koçani Orkestar oder der Hochzeitsmusikkapelle Banda della Posta und spielte mit Calexico. Er sucht sich immer wieder ungewöhnliche Auftrittsorte wie Bergwerke, Meeresbühnen oder Bahnhöfe, und seine Konzerte können schon mal sieben Stunden dauern.
Doch wer nur als Musiker von ihm Notiz nimmt, greift zu kurz. Capossela ist in seiner Vielseitigkeit und Originalität kaum zu bremsen. Er agierte als Theaterschauspieler, produzierte Weihnachtshörspiele fürs Radio, schrieb Filme und veröffentlichte mehrere Romane, für die er renommierte Preise bekam. Seine Lesungen inszeniert er schon mal mit einem Pianisten und einem Schiedsrichter zusammen wie einen Faustkampf in einem Boxring. Außerdem ist er künstlerischer Leiter des Sponz Fest in Calitri, eines Kulturfestivals, bei dem den Künstlern ein Motto vorgegeben wird, zu dem sie Werke präsentieren. Capossela macht kaum zweimal dasselbe, sucht vielmehr ständig neue Herausforderungen.
Bei seinem Konzert im Mai 2017 im Frankfurter Mousonturm hatte er eine Band dabei, die aus einem Jazzbassisten, einem E-Gitarristen, einem Gambespieler und einem Tarantellapercussionisten bestand. Geschickt wechselte er zwischen seinen neuen, eher unheimlichen Balladen, die teilweise am Country angelehnt waren und an Johnny Cash erinnerten, und galoppierenden Tarantellarhythmen, die regelrechte Volksfeststimmung im italienisch geprägten Publikum erzeugten. Dann spielte er einen Walzer oder ein vertracktes Arrangement à la Tom Waits und arbeitete mit Tiergeräuschen. Dazu wechselte Capossela immer wieder seine spektakulären Kopfbedeckungen vom Baumstammhut bis zum Federschopf eines roten Gockels. Im zweiten Teil spielte er ältere Stücke wie sein schmachtendes „Scivola Vai Via“ oder ein lustiges Lied über das Paradies für verschwundene Socken. Dann wieder wirkte er wie ein bluesiger Entertainer am Klavier, bis er zum Schluss noch mal mächtig an Tempo zulegte und gar Stroboskopblitze einsetzte.

... mehr im Heft.