Zeichnung: Woody Guthrie Mit freundlicher Genehmigung von Woody Guthrie Publications |
Michael Sez
Vor über fünfzig Jahren, im September 1968, wurde die Ruhrpottstadt Essen von einer friedlichen Invasion heimgesucht – Hippies, Gammler und Revoluzzer kamen zu Tausenden, um den Internationalen Essener Song Tagen (IEST) beizuwohnen. Da wollte ich – ein „wohlerzogener“ Sechzehnjähriger aus dem Sauerland, der bis dahin nur die Beach Boys live gesehen hatte – nicht fehlen. Doch Namen wie The Mothers of Invention oder Franz Josef Degenhardt konnten meine Eltern nicht überzeugen, mir eine Entschuldigung für die Schule zu schreiben. Unbeeindruckt vom kategorischen „Nein“ meiner Eltern verließ ich das Haus mit meinem Schulranzen – nur um ihn bei einem Freund abzugeben und dann an der B 1 mit erhobenem Daumen auf eine Mitfahrgelegenheit in die Krupp-Stadt zu hoffen. Die ließ nicht lang auf sich warten. Mit weit geöffneten Ohren und Augen tauchte ich dann für 24 Stunden ein in das „Waldeck-Festival ohne Wald“ (Rolf-Ulrich Kaiser). Neben internationalen Stars von Julie Driscoll bis zu den Fugs war fast die gesamte bundesrepublikanische Gegenkultur vertreten – von linken Kabarettisten und Liedermachern bis zur Popkommune. Musikalisch reichte das Spektrum von psychedelischem Rock, Freejazz und Folk bis zu Zigeunerswing, Lied und Chanson sowie Blues.
In Essen fanden damals neben den Konzerten zahlreiche Diskussionsveranstaltungen und Happenings statt. Der Höhepunkt des Festivals, ein Multimedia-Spektakel in der Grugahalle, war zu Recht unter dem Titel „Let’s take a trip to Hashnidi“ angekündigt worden. 12.000 Besucher saßen und lagen auf Schlafsäcken und Parkas vor den drei Bühnen – umwabert von dicken Haschischschwaden. Doch immer wieder wurde der „Augen- und Ohrenflug zum letzten Himmel“ unterbrochen. Mit Megafonen verschafften sich linke Hardliner Gehör, die den eher an Musik interessierten Besuchern „angepasstes Spießertum und unkritisches Konsumverhalten“ vorhielten. Zwar als Jungdemokrat am Gymnasium schon früh ein Linker, war mir politische wie musikalische Gegenkultur bis dahin nur aus den Medien und von Tonträgern her bekannt gewesen. Die IEST sollten meinen weiteren Lebensweg sowohl in Bezug auf die Musik als auch auf mein politisches Engagement entscheidend prägen. Das muss ich damals unbewusst geahnt haben, nahm ich den unausweichlichen Eintrag ins Klassenbuch wegen unentschuldigten Fehlens doch gelassen in Kauf.
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