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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

meine Freundin Martina Schwarz ist Akkordeonspielerin und Komponistin. Sie lebt seit fast dreißig Jahren in London. Hier leitet sie im eher links-grünen Hackney einen community choir, einen Gemeindechor, dessen Mitglieder alle für Remain gestimmt haben. Seit der ersten Brexit-Abstimmung 2016 setzte sie im Chorrepertoire mehr auf Solidaritäts- und Protestsongs wie „Thina Smunye“ oder „Avanti Popolo“. Und auch andere politaktive Chöre der starken britischen Singbewegung gingen in den letzten Jahren auf die Straße und sangen auf Anti-Brexit-Demos. So mischte der Nordlondoner Chor Raised Voices dem Partisanenlied „Bella Ciao“ die Textzeilen „We are remainers, and we are marching“ unter.
Jetzt ist der EU-Austritt da, bis Ende des Jahres werden die Wirtschaftsbeziehungen verhandelt, und die Musikszene ist stark verunsichert. „It’s going to be devastating“, kommentiert das Musikmagain NME die finsteren Aussichten. Denn eines steht jetzt schon fest: Die Musiker werden sich im EU-Raum nicht mehr frei bewegen können, das Reisen wird teurer; bestehende Verträge mit EU-Partnern müssen überarbeitet und vielleicht eine neue Terminologie gefunden, Visa ausgestellt und auf den CD- und Vinylhandel eventuell Zollgebühren bezahlt werden. Die hätten natürlich auch negative Auswirkungen auf den deutschen Markt. „Wenn du ein angesagter Act bist, dann kannst du die Mehrkosten verkraften“, sagt der Veranstalter des Isle-of-White-Festivals und Musikagent John Giddings im NME. „Aber wenn du ein durchschnittlich verdienender Künstler bist, werden die Auslandstouren eine Von-der Hand-in-den-Mund-Geschichte.“
Die ISM (Incorporate Society of Musicians) stellt mittlerweile Webinare ins Netz, in denen Künstler auf 2021 vorbereitet werden, und auch die Musikergewerkschaft
Cecilia Aguirre * Foto: Luisa Aguirre Musicians’ Union ist alarmiert. Sie hat auf change.org eine Petition für das künftige Ausstellen eines Musikerreisepasses gestartet („Let Touring Musicians Travel: Support Musicians Working in the EU Post-Brexit“). Der Pass soll für zwei Jahre gelten, von etwaigen Zolldokumenten befreien, möglichst umsonst sein und für die ganze Tourcrew gelten.
Der Staat als Verhinderer von künstlerischer Freiheit – schon im Frühjahr 2019 gab der exzentrische britische Musiker Matthew Herbert sein Album The State Between Us heraus. Eine Soundcollage vollgespickt mit Feldaufnahmen und politischen Messages. Eines Tages, so die optimistische Lesart des Albums, könnte die toxische Erinnerung an den Brexit verschwunden und Großbritannien wieder EU-Mitglied sein. Eine tolle Vision.
Mit unseren Stories über den Singer/Songwriter Sam Lee, die Sängerin Bridget St. John und das Irish-Spring-Festival ist diese Folker-Ausgabe ausgesprochen anglophil.

Viel Vergnügen beim Lesen.

Eure
Cecilia Aguirre