|
folker intensiv:Reichlich Luft nach obenFrauen.Stimmen.Gleichberechtigung.
Text: Sabine Froese
Als wir im Inhaltsteam über die Ausgestaltung des Frauenschwerpunkts im folker sprachen, war bereits gesetzt, dass ich, als einziges weibliches Mitglied der Runde, das Intro dazu schreibe. Klar, oder? Ja, würden viele sagen, denn wir alle müssen Frauen auf dem Weg zur Chancengleichheit unterstützen, wozu eben auch gehört, ihren Sichtweisen auf diese Benachteiligung mehr Raum zu geben. Erst während des Schreibens wurde mir klar, dass wir die Gelegenheit auch hätten nutzen können, dass sich ein männliches Redaktionsmitglied mit der Einleitung zu diesem Thema in geschlechtsbedingte Benachteiligung hineinfühlt und darüber reflektiert, wie es sein mag, als Frau nicht den gleichen Zugang zu Ressourcen zu haben wie Männer. Die Fähigkeit, sich in andere hineinzuversetzen, ist schließlich essenziell für die Veränderung eingefahrener Muster. Deshalb: Wagen wir ruhig öfter mal den (gedanklichen) Rollentausch, um herauszufinden, wo es bei jeder und jedem von uns auf dem Weg zur Emanzipation hakt.
Dass wir von dieser auch in der Musikbranche heute noch weit entfernt sind, zeigen Zahlen einer Studie aus dem Jahr 2021 im Auftrag von Keychange, einer EU-geförderten Initiative, welche die Gleichstellung in der Musikindustrie fördern will, und der MaLisa-Stiftung, gegründet von Maria Furtwängler und ihrer Tochter Elisabeth. Die Chancengleichheit hat sich demnach in den letzten fünf Jahren deutlich verbessert, meinen 42 Prozent der befragten Frauen, von den Männern dagegen 65 Prozent. Nur 14 Prozent der Männer, aber 68 Prozent der Frauen berichten, dass ihnen aufgrund ihres Geschlechts schon einmal Fähigkeiten abgesprochen wurden. Und fast jede der befragten Frauen hat schon diskriminierende Erfahrungen bezüglich ihres Geschlechts gemacht. Eine ähnliche Schieflage ermittelte eine GEMA-Analyse der Top-100-Single-Jahrescharts 2010 bis 2020 mit im Schnitt einem Anteil von 19 Prozent Interpretinnen gegenüber 81 Prozent Interpreten, wie der Zündfunk berichtet. Und laut einer Untersuchung der University of Southern California sinkt der Anteil von Frauen in der Musikindustrie sogar weiter, nicht nur im Popbereich. So rutschten Songwriterinnen 2020 gegenüber 2019 von 14,4 auf 12,9 Prozent ab, Produzentinnen gegenüber dem Vorjahr sogar von 5 auf 2 Prozent.
Wie sie Ungleichbehandlung persönlich erleben, erzählen fünf Künstlerinnen im Gespräch mit dem folker. „Ist man wie ich alleinerziehend, muss man sich als Mutter viel anhören, wenn man das Kind mit auf Tour nimmt. Übernehmen jedoch die Väter diese Rolle, werden sie gelobt und kriegen auf den Spielplätzen gleich Kekse geschenkt“, berichtet Sarah Lesch. Dota Kehr verweist auf die Schwierigkeit für Frauen, ihre Karriere nach dem Kinderkriegen lückenlos weiterzubetreiben. „Ich habe viele Kolleginnen gesehen, die kaum wieder anschließen konnten an Erfolg, den sie vor den Kindern hatten“, so die Liedermacherin. Die Interviews mit den beiden sowie mit Fjarill, Vivian Zeller und Yilian Cañizares sind unter der Überschrift „Auf den Punkt“ über das Heft verteilt.
Geschlechtergerechtigkeit wird im Musikbusiness aber erst erreicht sein, wenn jedwede sexuelle Identität keine Rolle mehr für die Karriere spielt, wie die Geschichte über die britische Singer/Songwriterin Grace Petrie, lesbische Butch, deutlich macht.
Sängerinnen aus dem Iran und Afghanistan, afrikanische Musikerinnen wie Mariaa Siga oder Savana Soul, die Südtiroler Band Ganes oder die US-Amerikanerin Aoife O’Donovan in unserem Schwerpunkt sind nur einige Beispiele für die herausragenden Leistungen von Frauen in Song, Folk und World. Trotzdem müssen sie ihre künstlerische Qualität gegen mehr Widerstand durchsetzen, gegen Diskriminierung und strukturelle Benachteiligung. Dort setzen Projekte wie das Onlinemusikjournal Melodiva an, das vom Frauen Musik Büro in Frankfurt herausgegeben wird und ausschließlich über Frauen im Musikgeschäft berichtet. Und auch MusiSHEans, ein globales Netzwerk zur gezielten Unterstützung von Gitarristinnen, dem wir in dieser Ausgabe einen Beitrag widmen wollten. Leider wurden Festival und anschließende Tour für März coronabedingt abgesagt und sollen nun im Mai 2023 stattfinden. Wir werden das Thema daher im kommenden Jahr wieder aufgreifen.
Sicher stellt sich die persönliche Situation für jede und jeden aufgrund unterschiedlicher Sozialisierungen und Berufe anders dar, wie das folker-Gespräch mit den Veranstalterinnen Maria Theessink vom Tønder Festival, Susanne Göhner von der Kulturbörse Freiburg und Simone Dake vom Rudolstadt-Festival zeigt. Aber auch für sie alle bleibt das Fazit: Es ist noch reichlich Luft nach oben.
Inhalt des Schwerpunkts:
Ganes – Die Mutigen aus Südtirol … 14
Geschlechtergerechtigkeit in der Musik- und Kulturbranche – ein Interview … 18
Grace Petrie – Identität: lesbisch und links … 22
nah dran: Melodiva und das Frauen Musik Büro Frankfurt … 26
Recht auf Roda und Rauchen – Frauen im Choro … 28
Aoife O’Donovan – Intellektuelle in stumpfsinnigen Zeiten … 34
„Es bleibt ein Kampf“ – Künstlerinnen in Afrika … 38
Kolumne: Mein Pantheon ist kein gendergerechter Ort … 41
Rezensionen … 42
Weiterführende Links … 44
nah dran: Zeitgenössische Oper Berlin im Zeichen der „Female Voice“ … 46
Auf den Punkt:
Dota Kehr … 16
Fjarill … 25
Vivien Zeller … 32
Sarah Lesch … 36
Yilian Cañizares … 45
|
|