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Autoreninfo:
Wenzel
Der Berliner Künstler Wenzel ist mehrfach preisgekrönter Autor, Musiker, Sänger und Regisseur.
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Zehn Jahre später – Ein folgenloser Appell Oder: Die heilige Ignoranz
Es ist wirklich schon zehn Jahre her! (Ich spare mir das „Ach-wie-die-Zeit-vergeht!“). Das Telefon klingelte, Michael Kleff fragte, ob wir nicht für das Liedermachertreffen des ZDF in Tutzingen einen Text vorbereiten sollten, um auf die zunehmende Ausblendung des deutschsprachigen Liedes in den Medien aufmerksam zu machen. Ich fragte, welches Treffen er meine? „Bist du nicht eingeladen?“, erwiderte er nach kurzer Pause. Nein, ich hatte es nicht auf die offizielle Liste der Sänger geschafft. Wende und Anschluss der DDR an die BRD waren sechzehn Jahre her, und nach der anfänglichen Euphorie herrschte wieder der Alltag. Die alte Bundesrepublik konnte recht gut ohne uns existieren. Er: „Warum bist du nicht eingeladen?“ – Ich: „Das ist die heilige Ignoranz!“
Text: Wenzel
Man könnte die Unterschiede der Sänger aus Ost und West aufzählen, um herauszubekommen, welches Phänomen man eigentlich ignorieren wollte, aber so viel Konzept herrscht beim Ignorieren nie vor und ich muss gerechterweise anmerken, dass sich viele Westkollegen sehr dafür interessierten, was wir veranstaltet haben hinter der Mauer. Aber da es keine offizielle Kulturpolitik gibt, denn der Föderalismus schützt auch vor Konzeptionen, sieht man das Öffentliche, also Fernsehen oder Zeitungen immer noch als Gradmesser für Wertigkeiten. Manchmal erwächst die Ignoranz eben auch aus Faulheit, Selbstverliebtheit oder Provinzialismus. Eine deutsche Tugend, die in den letzten Jahren an Beliebtheit zugenommen hat. Michael, geschult im Streiten mit den Windmühlen des Schwachsinns, hatte gelernt, um Positionen und Rechte zu kämpfen. Kurzum, ich kam auf die heilige Liste und fuhr in die bajuwarische Idylle an den Starnberger See. Da waren wir alle plötzlich beisammen, die wir uns kannten. Die einen freuten sich auf Austausch, Gespräche, andere witterten Chancen für ihre Karriere. Eben wie überall in diesen Landen.
Als ich später die Sendung sah und bei meinem Erscheinen im Bild stets der Untertitel „Wenzel, Liedermacher (Ost)“ eingeblendet wurde, schrieb ich an das ZDF, was dieses „Ost“ bedeute? Ob ich kein richtiger Liedermacher wäre? Denn bei der Bundekanzlerin schriebe man ja auch nicht „Merkel, Bundeskanzlerin (Ost)“. Eine Antwort blieb aus.
Wir waren zusammengekommen und hatten einen Text vorbereitet. Wir liefen in der Kantine von Tisch zu Tisch und verteilten wie Werber der Zeugen Jehovas unser Papier. Es gab wohlwollendes Lächeln oder gespielte Aufmerksamkeit, aber auch echtes Interesse. Ehrlich gesagt, war ich ein wenig der Resolutionen müde, denn in den Jahren 1989/90 hatten wir von dieser Art Gestaltung zur Genüge Gebrauch gemacht. Aber ich ließ mich überreden, denn wir spürten deutlich, dass sich die kulturelle Landschaft in den nächsten Jahren rigoros verändern würde. Es haben fast alle unterschrieben. Und dann? Haben wir Änderung erreichen können? Nein, es hat sich nichts geändert. Im Gegenteil, die Sendereformen („Reform“ – das Zauberwort für alle Sauereien!) walzten sich von Redaktion zu Redaktion, es setzte eine nie dagewesene Hinwendung zum Entertainment ein, stets mit dem Argument, dass es die Leute eben so wollen. Immer mehr verschwand das Lied aus der medialen Öffentlichkeit, obwohl die Sänger große Säle füllen. Auch dieser Umstand wird ignoriert. Irgendein Redakteur weiß eben genauer, was in ist und was out.
Was hat dieser Tutzinger Appell bewirkt, muss man sich nun fragen nach zehn Jahren? – Nichts. Hätte man nicht auf ihn verzichten können? – Nein! Nicht nur der Umstand geistiger Hygiene adelt das Unternehmen, auch der augenblickliche Zustand dieses Landes zwischen AfD, Pegida, NSU und grölendem Mob vor Flüchtlingsheimen, den Kampfschreien gegen eine „Lügenpresse“ – all dies zeigt, wie sehr ein Aktivieren kultureller Identitäten nötig ist. Bei diesem Appell ging es nicht um Quoten (das ist die beliebte Form, sich inhaltlichen Diskursen zu entziehen, man überträgt das Problem dem „Gesetz der großen Zahlen“), es ging nicht um Pfründe, es ging um das Beharren auf authentische Kultur in der sich monokulturell ausrichtenden Welt. Es ist üblich geworden, beim Aufscheinen von Krisen auszurufen: Wo bleiben die Intellektuellen? Warum meldet sich keiner von ihnen zu Wort? Diese Aufgeregten vertuschen nur Ignoranz, die an den Stellen vorherrschte, wo noch Änderung möglich gewesen wäre.
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Dies ist eine Kolumne. Für die Inhalte der hier veröffentlichten Texte sind die jeweiligen Autoren verantwortlich. Diese Inhalte spiegeln nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
„Liedermacher & Co. – Die Tradition und Aktualität deutscher Songpoeten“ war der Titel einer Veranstaltung der Evangelischen Akademie Tutzing im Januar 2006. Im Anschluss an die Tagung verabschiedeten die Teilnehmer den „Tutzinger Appell zum Umgang mit dem Lied in Deutschland“. Der komplette Wortlaut:
Tutzinger Appell zum Umgang mit dem Lied in Deutschland
Es hält sich hartnäckig in dieser Kulturnation das Gerücht, nichts wäre schändlicher, als den Hörer/Leser/Betrachter zu überfordern. Die Soziologen und Effizienzprediger, die keiner anderen Gewissheit auf Erden so vertrauen wie einfachen, abzählbaren Mehrheiten und sich damit auf der Seite der Wahrheit glauben, haben den Kunst- und Kulturbetrieb in einen großen Supermarkt verwandelt – Schnäppchen, wohin das Auge sehen kann. „Geiz ist geil“, eben auch in geistiger Hinsicht. Unter diesem Gesichtspunkt beschäftigt ein Kulturstreit der ungewöhnlichen Art die Politik. Vor dem Hintergrund der „Du-bist-Deutschland“-Kampagne und der Diskussion um eine deutsche Leitkultur geht es auch um Quoten für deutsche Rock- und Popmusik. Das Radio soll nationale Popmusik häufiger spielen, sagen die einen. Andere lehnen eine Quote vehement ab. Qualität und Vielfalt lassen sich nicht erzwingen, heißt es.
Dabei bestimmen statt eben dieser Qualität und Vielfalt doch längst allein Quantitäten die meisten öffentlich-rechtlichen Programme – Verkaufszahlen, ausländische Charts, Umfrageergebnisse. Auch die mit der Einführung der Privatsender Anfang der 1990er-Jahre versprochene Vergrößerung der Vielfalt ist nicht eingetreten. Das Gegenteil ist der Fall. Vor dem Hintergrund narkotisierender Berieselung wenden sich inzwischen viele ab. Musikergruppen entwickeln eigene Strukturen, um ihre Werke zu verbreiten. Das Publikum weicht auf Formatangebote zum Beispiel im Internet aus. Zum Schaden aller Beteiligten. Die Musiker verlieren ein kritisches Forum. Die Hörer das Angebot, sich überraschen lassen zu können. Und die Medien ihre Akzeptanz.
Musik im Radio bedeutete einst, durch das subjektive Auswahlprinzip einer autorisierten Persönlichkeit an die unüberschaubare Menge der produzierten Musik Anschluss zu finden, neue Impulse zu erhalten, Voreingenommenheiten zu überwinden und Toleranz auch im stilistischen Sinne zu erlernen. Die Redakteure hatten eine intensive Beziehung zur Musik, waren Spezialisten und weckten mit ihren Informationen Interesse, den eigenen musikalischen Horizont zu erweitern. Statt „Durchhörbarkeit“ war das Gebot der Stunde, dem Hörer zuzugestehen, selbst zu entscheiden, was er hören wollte und was nicht. Aufmerksamkeit wurde vorausgesetzt. Man konnte und musste sich mit Liedern beschäftigen, die sich nicht – wie heute im Zeitalter der Playlists – Stunde für Stunde wiederholten.
Opfer der Banalisierung des Musikangebots in den Medien sind vor allem deutschsprachige Musikerinnen und Musiker. Auch wenn ein von Quoten unabhängiges Phänomen konstatiert werden kann: Deutsch zu singen kommt zunehmend in Mode. Verwiesen wird auf die Chartserfolge von Gruppen wie Silbermond, den Toten Hosen oder Wir sind Helden. Dieser Anteil spiegelt sich aber nicht in den Musikprogrammen wider. Als vor wenigen Jahren die CD Das Konzert mit Reinhard Mey, Hannes Wader und Konstantin Wecker erschien und es auf Anhieb unter die ersten 20 der Verkaufscharts schaffte, war von dieser CD in den meisten Rundfunkanstalten kaum etwas zu hören. Offensichtlich besteht ein Widerspruch zwischen dem Interesse an deutschsprachiger Musik und ihrer Behandlung im Radio. Und dieser betrifft besonders den Bereich Liedermacher und Folk. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass in jüngster Zeit eine neue Generation deutscher Popmusik die nationale Pose entdeckt hat und von einigen Konservativen dafür gefeiert wird. Da diese Künstler, wie die Frankfurter Allgemeine Zeitung bemerkte, dazu beitragen würden, die deutsche Geschichte zu „normalisieren“.
Neben diesem Kultursegment, das von politischer Symbolik geprägt ist, und einem an Unterhaltung, Kommerz und Massengeschmack orientierten Musikmarkt gibt es unzählige Liedermacher, Songpoeten, Indierocker, Chansonniers, Pop- und Folkbands, „singende“ Kabarettisten sowie experimentelle, innovative Besetzungen, die nicht in einer modischen Pose erstarren. Stattdessen machen sie ein Angebot mit Liedern, deren Texte nachdenkenswert und kritisch sind, verbunden mit Musik, die sich nicht unbedingt an eingefahrene Hörgewohnheiten anlehnt. Das kann in viele Stilrichtungen gehen: ins klassische Chanson, in den Folk, Pop, Blues, Rock, Jazz, Hip-Hop oder Rap.
Die Musikerinnen und Musiker des Treffens „Liedermacher & Co.“ der Evangelischen Akademie Tutzing (13.-15. Januar 2006) fordern dazu auf, diesem Stück deutscher Kultur eine ihm angemessene Plattform zu geben, sowohl in den Medien als auch in der gesellschaftlichen Förderung entsprechender Organisationen. Es ist ein Appell, sich der politischen Verantwortung nicht länger zu entziehen und alle diesbezüglich wichtigen Entscheidungen in die Kulturhoheit der Länder abzuschieben. Die Verwahrlosung der kulturellen Infrastruktur wird weitreichende Folgen zeigen. Gerade in den Zeiten hemmungsloser Globalisierung müssen Medien und Institutionen wieder stärker durch Angebote und Anregungen in den Prozess einer kulturellen Bildung eingegliedert sein und nicht nur darauf reduziert werden, die Produkte der Musikindustrie effizient zu verwerten. Die Überbewertung einer ausschließlich kommerziellen Ausrichtung und eines rein unterhaltenden Anspruchs von Musik ist nur die Phrase, mit der sich die merkantile Fixierung kostümiert. Wenn die Wirklichkeit keinen Platz mehr findet in den Programmen der Sender und Parteien, verlieren sie jenes Vertrauen, von dem sie leben. Diesen Widerspruch auf die Begriffe „Unterhaltung“ und „anspruchsvolle Kunst“ zu reduzieren, ist dumm und strategisch falsch, weil die implizite Unterschätzung der Zuschauer beziehungsweise Zuhörer diese am Ende auch fortbleiben lässt. Es geht um Qualität und um die Gewissheit, dass diese belohnt wird. Letztendlich ist die Musiklandschaft in Europa und also auch in Deutschland Spiegel gesellschaftlicher und kultureller Identität.
Tutzing, 15. Januar 2006
Bernd Begemann
Diether Dehm
Danny Dziuk (Deutscher Liederpreis* 2002)**
Christian Haase
Dota Kehr
Ulla Meinecke
Heinz Ratz
Carl-Ludwig Reichert
Martin Sommer
Christof Stählin (Deutscher Liederpreis 1991)
Stefan Stoppok (Deutscher Liederpreis 2000, 2004)***
Konstantin Wecker (Deutscher Liederpreis 1985, 1990, 1993)****
Hans-Eckardt Wenzel (Deutscher Liederpreis 2001, 2005)*****
Götz Widmann
* Der deutsche Liederpreis wird seit 1984 von der Liederbestenliste vergeben.
** Seitdem auch 2009
*** Seitdem auch 2011
**** Seitdem auch 2012
***** Seitdem auch 2008, 2013
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